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Georgiens müde Demokratie und die Frau, die sie wachhält


Quelle: IPN.ge
Quelle: IPN.ge

In Georgien kann man dieser Tage, wenn man die Augen offen hält, etwas erleben, das an längst vergangene Zeiten erinnert. Auf der Rustaweli-Allee, mitten in Tiflis, steht eine Frau, klein, alt, mit festem Blick und georgischer Flagge in der Hand. Ihr Name ist Aza Chilachava, 71 Jahre alt, aus Gagra (Abchasien) vertrieben, heute Symbol einer moralischen Hartnäckigkeit, die man in diesem Land immer seltener findet. Während sie auf dem Asphalt steht, den Polizisten gegenüber, wirkt sie unwillkürlich, wie eine Figur aus einer anderen Epoche. Keine Heilige, keine Visionärin, einfach eine Bürgerin, die ihr Land nicht aufgibt.


Eine Frau mit Pflichtgefühl

Aza Chilachava glaubt an etwas Irdisches, aber kaum weniger Heiliges: an ihr Land, an dessen Würde und an die Freiheit, nicht im Schatten von Moskau zu leben. Als man sie am 2. November 2025 in Tiflis festnahm angeblich, weil sie „auf der Fahrbahn stand“ und „eine Gesichtsmaske trug“, lächelte sie. Vor Gericht sagte sie, sie werde wiederkommen. „Ich gehe wieder auf die Straße, ich werde die Erste sein.“ Eine alte Frau, die weiß, dass sie dafür erneut in Haft kommen kann. Und dennoch sie sagt es, als würde sie von einer Pflicht sprechen, nicht von einer Entscheidung.


Ein Staat, der Mut bestraft

Diese Pflicht, könnte man sagen, ist das, was Georgiens Regierung nicht versteht oder nicht mehr verstehen will. Der Richter Tornike Kochkiani verurteilte Chilachava zu einem Tag Arrest, so, als ginge es um eine bürokratische Routine, nicht um ein politisches Symbol. Das Innenministerium hatte zuvor beantragt, man möge „die Haft als die angemessenste Maßnahme“ anwenden. Als wäre ziviler Ungehorsam ein Störgeräusch, das man kurz ausschalten kann. Doch nichts an dieser Szene ist banal. Eine Siebzigjährige, die für ihr Land protestiert, wird abgeführt, während auf der anderen Seite der Staat seine Repressionsgesetze verfeinert, um die Kontrolle über genau solche Körper zu behalten.


Gesetze gegen Bürger

Denn während Europa über Georgiens Beitrittskandidatur diskutiert, verabschiedet Tiflis in Windeseile Gesetze, die das Gegenteil von europäischen Werten darstellen. Das neue Gesetz über öffentliche Versammlungen, das im Oktober 2025 verabschiedet wurde, sieht nun Haftstrafen von bis zu zwei Jahren für Demonstranten vor, die eine Straße blockieren oder ihr Gesicht bedecken. Damit wird der Protest selbst kriminalisiert. Die Polizei entscheidet, wer ein Bürger ist und wer ein Delinquent. Die Justiz nickt. Die Regierung applaudiert. Die Demokratie schweigt.


Eine Gesellschaft im Stillstand

Man erinnert sich unweigerlich an die Geschichten von Menschen, die sich allein der Macht entgegenstellten – ohne Waffen, ohne Partei, ohne Schutz. Georgiens Regierung reagiert darauf mit Paragrafen, Haft und Zynismus. Aza Chilachava ist keine Heldin im mythischen Sinn, sie ist eine Zumutung: für eine Gesellschaft, die sich an Angst gewöhnt hat, und für eine Macht, die nur Stärke kennt, nie Scham.


Wenn Zivilcourage gefährlich wird

Ironischerweise verleiht gerade diese Banalität – der Papierschimmer einer Verwaltungsstrafe, die achtlose Geste eines Polizisten – ihrer Geschichte jene Wucht, die sie so gefährlich macht. Heldinnen entstehen nicht durch Pathos, sondern durch die Unfähigkeit der Macht, Menschlichkeit zu ertragen. Aza Chilachava wird noch nur eingesperrt. Doch auch das ist ein Brandmal: für ein Land, das seine ältesten Bürgerinnen kriminalisiert, weil sie das sagen, was die Jüngeren längst zu denken aufgehört haben.


Der Preis der Würde

Seit fast einem Jahr dauern die proeuropäischen Demonstrationen in Georgien an. Sie fordern Neuwahlen, faire Gerichte, die Freilassung politischer Gefangener. Die Regierung antwortet mit Tränengas, Paragrafen und Propaganda. Parlamentspräsident Schalwa Papuaschwili, der Mann, der eigentlich Garant der Verfassung sein sollte, hat es kürzlich auf den Punkt gebracht – wenn auch unbeabsichtigt. Auf die Frage nach Aza Chilachava sagte er, man solle sich „an den EU-Botschafter wenden“, der diese Menschen „opfert“, um politische Punkte zu sammeln. Das ist das offizielle Narrativ: Der Westen manipuliere, die Opposition verhetze, die Polizei beschütze. Und wenn dabei eine 71-Jährige in Haft landet – nun ja, Kollateralschaden im Namen der Ordnung.


Ein Land, das seine Bürger fürchtet

Es ist diese rhetorische Verschiebung, die Georgien gefährlich macht. Nicht der einzelne Fall, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der die Regierung die eigenen Bürger als Feinde behandelt. Institutionen, die ihre Legitimation aus Angst ziehen, verlieren ihre Seele. Aza Chilachava trägt keine Rüstung und hört keine Engel, aber sie ist der Beweis, dass Mut ansteckend sein kann – und dass selbst ein alter Körper zum Spiegel einer Nation werden kann.


Ein stilles Symbol

Auf der Rustaweli-Allee, wo jeden Abend Kerzen flackern, steht sie wieder. Vielleicht wird sie morgen wieder festgenommen, vielleicht übermorgen. Vielleicht wird sie krank. Aber für einen Moment, einen einzigen Moment, wird Georgien – dieses müde, erschöpfte, manipulierte Georgien – durch sie wieder erkennbar als das, was es sein könnte: ein Land, das seine mutigsten Bürger noch nicht vergessen hat.

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