82.500 Euro für eine Straßenblockade: Der Fall Gota Tshanturia und der politische Preis des zivilen Protests
- Goga Machavariani

- vor 10 Stunden
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Ein Urteil, das mehr über Georgien erzählt als jede Regierungsrede
Es gibt Entscheidungen, die ein Land präziser beschreiben als jeder politische Bericht, und der Fall des georgischen Aktivisten und Lehrers Gota Tshanturia gehört genau in diese Kategorie. Am 18. November verurteilte Richter Manuchar Tsatsua ihn wegen neunundvierzig Fällen der Straßenblockade zu insgesamt 245.000 Lari, was umgerechnet etwa 82.500 Euro entspricht. In einem europäischen Rechtsraum wäre dies eine Summe, die bei organisierten Wirtschaftsdelikten oder groß angelegtem Steuerbetrug denkbar wäre. In Georgien genügt offenbar das Stehen auf einer Straße, um in diese finanzielle Größenordnung vorzudringen. Dass der Staat Proteste zunehmend als Störung und nicht als Grundrecht behandelt, lässt die Strafe kaum als juristische Entscheidung erscheinen, sondern vielmehr als politische Ansage an alle, die sich trotz wachsender Repression im öffentlichen Raum zu Wort melden.
Der ökonomische Kontext: Ein Land zwischen Mindestlohn und Maximalstrafen
Die Härte des Urteils erschließt sich erst richtig im Verhältnis zu den Lebensrealitäten im Land. Der monatliche Mindestlohn in Georgien liegt heute faktisch bei rund 1.700 Lari, was etwa 570 Euro entspricht. Selbst dieser Betrag bietet kaum Spielraum, da die Lebenshaltungskosten in den Städten kontinuierlich steigen und die soziale Sicherheit eines Schwellenlandes entsprechend fragil bleibt. Der durchschnittliche Männerlohn liegt bei 2.601 Lari, was etwa 875 Euro monatlich sind. Selbst unter optimistischen Bedingungen müsste ein durchschnittlicher Arbeitnehmer über sieben Jahre und zehn Monate ohne jede Ausgabe leben, um die Strafe zu begleichen. Realistisch betrachtet, also in einer Lebenswelt, in der Menschen essen, wohnen und Kinder versorgen müssen, müsste Tshanturia über fünfzehn Jahre lang die Hälfte seines gesamten Einkommens ausschließlich für diese Strafe zurücklegen.
Die Diskrepanz zwischen Einkommen und Sanktion ist derart massiv, dass sie nicht zufällig erscheinen kann. Ein Staat, der Einkommensrealitäten ignoriert und Bußgelder verhängt, die in keinem Verhältnis zur wirtschaftlichen Existenz seiner Bürger stehen, setzt ein Zeichen, das weit über die betroffene Person hinausgeht. Das Urteil richtet sich nicht nur gegen Tshanturia, sondern gegen den Gedanken, dass Protest ein legitimes demokratisches Mittel ist. Es suggeriert, dass ziviles Engagement einen finanziellen Preis hat, den niemand über Jahre hinweg tragen kann, ohne politisch oder sozial zu zerbrechen.
Ein Aktivist im Visier einer gereizten Staatsmacht
Gota Tshanturia ist nicht irgendeine Figur der Zivilgesellschaft. Er ist Lehrer, Bildungsexperte, Vater dreier minderjähriger Kinder und eine der prägenden Stimmen der sogenannten Sazmau-Märsche, die in den vergangenen Jahren versucht haben, demokratische Werte in einem zunehmend autoritär werdenden politischen Umfeld sichtbar zu halten. Dass gerade er ins Zentrum der Sanktionen gerät, ist kaum verwunderlich. Die Regierung hat in den vergangenen Jahren eine klare Linie verfolgt: Protest soll nicht verhindert, sondern verteuert werden. Die neunundvierzig Fälle, die nun zur Berechnung von Tsatsuas Urteil dienten, stammen aus einer Zeit, in der Straßenblockaden lediglich eine Ordnungswidrigkeit darstellten. Die spätere kriminalisierende Gesetzgebung, die das Blockieren einer Straße in die Nähe schwerwiegender Tatbestände rückte, galt damals noch nicht. Dass diese historische Unterscheidung für das Urteil offenbar keine Rolle spielt, ist ein bezeichnender Hinweis auf die Flexibilität des georgischen Rechts im Umgang mit politischer Opposition.
Eine Justiz, die fragmentiert, wo sie bündeln müsste
Besonders bemerkenswert ist die Entscheidung der Gerichte, die zahlreichen Fälle nicht zusammenzuführen. Insgesamt stehen gegen Tshanturia 73 Bußgelder im Raum, verteilt auf vier Richter: Koba Tshagunava, Nino Enukidse, Manuchar Tsatsua und Zviad Tsekvava. Die Idee, identische oder nahezu identische Sachverhalte in einem einheitlichen Verfahren zu prüfen, ist in rechtsstaatlichen Systemen nicht nur üblich, sondern notwendig, um widersprüchliche Entscheidungen zu vermeiden. In Georgien jedoch wurde der Antrag auf Zusammenlegung ohne jede Begründung abgelehnt. Die Fragmentierung wirkt wie ein strategisches Mittel der Zermürbung: Jeder Fall einzeln, jede Strafe separat, jede Entscheidung isoliert. Es ist ein methodisches Vorgehen, das den Eindruck vermittelt, dass Rechtsprechung nicht in erster Linie an der Wahrheit interessiert ist, sondern an der Herstellung eines möglichst hohen politischen und finanziellen Drucks.
Der europäische Vergleich als Spiegel der Unverhältnismäßigkeit
Die Strafe in Höhe von 82.500 Euro wirkt im europäischen Vergleich noch drastischer. Während solche Summen in Deutschland bei komplexen Betrugsfällen oder schwerwiegenden Wirtschaftsdelikten anfallen, in Italien bei systematischen Steuervergehen und in Frankreich bei groß angelegten Umwelt- oder Arbeitsrechtsverstößen, genügt in Georgien eine Demonstration, um eine solche Sanktion auszulösen. Die Regierung spricht gerne von „Annäherung an europäische Standards“, doch in diesem Fall ist die Entfernung zu Europa sichtbarer als jeder diplomatische Fortschrittsbericht. Europäische Demokratien bestrafen Protest nicht in Höhe eines Familienjahresbudgets, sondern schützen ihn. Georgien hingegen setzt ihn auf eine finanzielle Ebene, die für einen durchschnittlichen Bürger ruinös ist. Das Ergebnis ist eine schleichende Abschaffung politischer Teilnahme – nicht durch Verbote, sondern durch Ökonomie.
Das soziale Gewicht der Strafe
Tshanturia ist dreifacher Vater. Die Strafe trifft nicht nur ihn, sondern seine gesamte Familie. Sie trifft zukünftige Ausbildungswege seiner Kinder, gesundheitliche Vorsorge, Wohnrealität, Berufsperspektiven und jede Form von finanzieller Stabilität. Es ist eine Strafe, die nicht einfach eine Vergangenheit sanktioniert, sondern eine Zukunft zerstört. Und damit wird deutlich, worum es in Wirklichkeit geht: nicht um Ordnung, sondern um Abschreckung.





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