Tsintsadze in Straßburg – Georgien exportiert seinen Justiz-Clan nach Europa
- Goga Machavariani
- 18. Juni
- 3 Min. Lesezeit
Die Verteidigung richterlicher Unabhängigkeit ist laut Artikel 3 und 8 der Statuten des Europarats ein zentrales Prinzip der Organisation. Auch die Magna Carta of Judges formuliert unmissverständlich: „Die Unabhängigkeit der Justiz ist ein grundlegendes Element für die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit.“ Und doch: Bei der Zusammensetzung seiner eigenen Gremien versagt der Europarat offenbar genau dort, wo er besonders glaubwürdig sein müsste.
Jüngstes Beispiel: Die Ernennung der georgischen Richterin Ketevan Tsintsadze zur Arbeitsgruppe des Consultative Council of European Judges (CCJE). Tiflis24 hat beim Europarat nachgefragt – und erhielt eine bemerkenswert ausweichende Antwort.
„Die Benennung jedes Mitglieds des CCJE erfolgt durch die zuständigen Behörden des jeweiligen Mitgliedstaates gemäß Regel 5 der Resolution CM/Res(2021)3.“— Tatiana Baeva-Frachon, Pressesprecherin des Europarats, 16. Juni 2025[Quelle: Offizielle Antwort an Tiflis24, veröffentlicht mit Zustimmung]
Was auf den ersten Blick wie ein bürokratischer Hinweis klingt, ist in Wirklichkeit eine politische Kapitulation: Die Zusammensetzung des Gremiums bleibt komplett den jeweiligen Regierungen überlassen – selbst wenn es sich um Regierungen handelt, deren Justizsystem unter Korruptionsverdacht steht.
Tsintsadze: Karriere im Schatten des Justizklans
Der Fall Tsintsadze ist kein Einzelfall, sondern ein Paradebeispiel für die Verschränkung von Macht und Loyalität im georgischen Justizsystem:
Laut Transparency International Georgia (2019) arbeitete Tsintsadze jahrelang als Assistentin des umstrittenen Richters Mikheil Chinchaladze, einer Schlüsselfigur des sogenannten „Justizklans“.
In ihrer Funktion als „Unabhängige Inspektorin“ der Justiz sah sie jahrelang von Ermittlungen gegen Klan-nahe Richter:innen ab – selbst bei klaren Verdachtsmomenten, so mehrere NGO-Berichte.
Democracy Index Georgia schreibt, die Position des Inspektors sei „systematisch an Clan-loyale Personen vergeben“ worden. Tsintsadze wird als Beispiel genannt.
Im April 2023 verhängten die USA Sanktionen gegen Chinchaladze und weitere Richter wegen „signifikanter Korruption“.
Trotzdem (oder gerade deshalb?) wurde Tsintsadze 2024 auf Lebenszeit zur Richterin ernannt – mit Unterstützung eben jener Strukturen.
Und was macht der Europarat?
Der CCJE beruft sich auf Regel 5 der Resolution CM/Res(2021)3, die besagt:
„Die Gremien bestehen aus einer von der jeweiligen Regierung benannten Person mit höchstmöglicher Qualifikation im entsprechenden Bereich.“
Mit anderen Worten: Der Europarat übernimmt keinerlei Verantwortung für die Qualität oder Integrität der Nominierten. Er prüft auch nicht, ob die Vorgeschlagenen der eigenen Magna Carta of Judges genügen, die richterliche Unabhängigkeit und persönliche Integrität als zentrale Kriterien nennt. [Quelle: https://rm.coe.int/16807482de]
Eine Anfrage von Tiflis24, ob irgendeine Form von Due-Diligence oder Integritätsprüfung erfolgt, wurde mit Schweigen quittiert. Ebenso die Frage, ob Nähe zu US-sanktionierten Personen ein Ausschlusskriterium für beratende Tätigkeiten in Europaratsgremien sei.
Artikel 3 & 8: Hülsen oder Handlungspflicht?
Ein Blick in die Statuten des Europarats verdeutlicht den Widerspruch zwischen Anspruch und Realität:
Artikel 3: „Jedes Mitglied verpflichtet sich, die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit sowie die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten.“
Artikel 8: „Bei schwerwiegender Verletzung dieser Grundsätze kann ein Mitglied suspendiert oder ausgeschlossen werden.“[Quelle: https://rm.coe.int/1680306052]
Wenn richterliche Unabhängigkeit jedoch so zentral ist – warum existieren dann keine Mechanismen, um problematische Nominierungen zu überprüfen oder zu revidieren?
Doppelmoral mit System?
Der Europarat erwartet von Georgien eine Justizreform, die genau jene Strukturen bekämpft, die er intern kommentarlos akzeptiert. Brüssel fordert Vetting, der Europarat winkt durch. Dabei ist der CCJE kein rein symbolisches Gremium – seine Stellungnahmen beeinflussen die Rechtsentwicklungen in ganz Europa.
„Gerade weil die Legitimität des CCJE auf der Unabhängigkeit seiner Mitglieder beruht, ist es besorgniserregend, dass eine Vertreterin nominiert wurde, die sowohl im Inland als auch international als Teil des Justizklans gilt.“— Goga Machavariani, Tiflis24 (aus der offiziellen Nachfrage an den Europarat)
Glaubwürdigkeitskrise made in Strasbourg
Ob aus politischem Kalkül oder struktureller Bequemlichkeit: Der Europarat ignoriert eine Grundregel der guten Regierungsführung – die Unabhängigkeit der Justiz nicht nur zu fordern, sondern auch zu leben. Die Institution, die einst mit dem Straßburger Gerichtshof als Bollwerk gegen autoritäre Strukturen galt, wird so zum zahnlosen Beobachter.
Wenn ein Gremium wie der CCJE nicht einmal prüft, ob seine Mitglieder im eigenen Land rechtsstaatlich handeln, verliert es jede moralische Autorität – gegenüber Georgien, gegenüber der EU und gegenüber den Bürger:innen, die auf Gerechtigkeit hoffen.
Der Europarat darf sich nicht länger hinter formalen Regeln verstecken, wenn er glaubwürdig bleiben will. Die Prinzipien von Artikel 3, Artikel 8 und der Magna Carta of Judges gelten nicht nur für Kandidatenländer wie Georgien, sondern auch für die Institutionen selbst. Es braucht endlich ein verbindliches Vetting, auch innerhalb des Europarats.
Denn: Wer sich zum Wächter der Rechtsstaatlichkeit erklärt, darf sich nicht zum Komplizen autoritärer Netzwerke machen.
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