Feier oder Widerstand: Wie der 26. Mai in Georgien aussah
- Anano Mtchedlishvili
- 27. Mai
- 3 Min. Lesezeit
Jedes Jahr feiert Georgien am 26. Mai seinen Unabhängigkeitstag – den Tag im Jahr 1918, an dem die Unabhängigkeitserklärung verabschiedet und die Demokratische Republik Georgien gegründet wurde – im Nachgang der russischen Revolution von 1917. Diese erste Republik existierte jedoch weniger als drei Jahre: 1921 marschierte die Rote Armee ein, und das Land wurde in die Sowjetunion eingegliedert.
Auch in diesem Jahr folgte der Feiertag der gewohnten Choreografie – Militärparade, Kulturveranstaltungen, Straßenmärkte und Konzerte. Doch zum zweiten Mal in Folge standen diese Feierlichkeiten im Schatten von Protesten gegen die amtierende Regierung. Die Forderungen: Neuwahlen und die Freilassung politischer Gefangener – der sogenannten „Gefangenen des Regimes“.
Sowohl Regierung als auch Opposition hatten jeweils ihr eigenes Programm – mit grundverschiedenen Botschaften.

Die offizielle Feier der Regierung setzte ganz auf Unterhaltung: Kinderchöre, kreative und lehrreiche Angebote für die Jüngsten, Ausstellungen und der Verkauf georgischer Weine, Weinverkostungen und musikalische Darbietungen – all das in Tiflis und in 20 weiteren Städten. Zentrum des Spektakels war wie gewohnt die Militärparade, bei der 700 Wehrpflichtige ihren Eid auf die Verteidigungskräfte ablegten. Weitere solcher Zeremonien fanden an fünf historisch symbolträchtigen Orten in Georgien statt.
Ganz anders das Programm der Protestplattform „Protest 24“, die den 26. Mai als Tag der Rückeroberung des Narrativs von Unabhängigkeit verstand. Es fanden den ganzen Tag über Protestmärsche statt – von Gewerkschaften, vom öffentlichen Rundfunk, von zivilgesellschaftlichen Gruppen. Es gab öffentliche Diskussionen zur Ersten Republik Georgiens, zur Rolle von Universitäten beim Staatsaufbau und zu den heutigen Bedrohungen für das georgische Bildungssystem. Weitere Themen: Wahlbetrug, EU-Kulturerbe, Graf Schulenburg und die erste georgische Republik. Die Organisation Sartuli sammelte Briefe und Geschenke für politische Gefangene. Den Abschluss bildete eine Rede von Präsidentin Salome Surabischwili vor dem Parlament in der Rustaveli-Straße, gefolgt von einer Vorführung der Dokumentation „To Save the Independence“ (Die Unabhängigkeit retten).

Für viele Menschen erhielt dieser Tag dadurch eine tiefere Bedeutung.
Lado Apkhazava, Lehrer und zivilgesellschaftlicher Aktivist, bezeichnete den 26. Mai als wichtigstes Datum in der georgischen Geschichte, das sich heute in einen Tag des Kampfes für Freiheit verwandelt habe:„Merab Kostava sagte einst: Wenn das georgische Volk aufhört zu kämpfen, nachdem es die Unabhängigkeit erlangt hat – dann wird es sie verlieren. Dieser Tag erinnert uns daran, niemals aufzuhören. Die Geschichte zeigt: Georgier mussten ihre Freiheit immer erkämpfen. Deshalb ist das heute auch ein Tag des Widerstands.“
Er fügte hinzu:„Die Regierung bietet den Menschen Unterhaltung an, um ihnen das Gefühl zu geben, dass alles in Ordnung ist. Doch Georgien ist gespalten – der eine Teil feiert, der andere kämpft. Und der Sieg wird jenen gehören, die kämpfen.“
Auch Amiran Jimsherashvili, Student im vierten Jahr an der Theater- und Filmuniversität Shota Rustaveli und aktiv im Studierendenprotest, bestätigte dieses Gefühl:„Der 26. Mai ist der Tag, an dem ein kleines Volk mit großer Geschichte gezeigt hat, dass es unabhängig sein und sich selbst regieren kann.“
„Wir können nicht feiern, während Gleichaltrige zu Unrecht im Gefängnis sitzen. Gleichzeitig wollten wir die Gelegenheit nutzen, um den Menschen, die sich heute zur Feier der Unabhängigkeit versammelt haben, unsere Perspektive mitzuteilen. Wir wollten auch unsere Plattform Students for You vorstellen – vielen war sie bislang unbekannt.“

Der Vater des 19-jährigen politischen Gefangenen Zviad Tsetskhladze, Zura Tsetskhladze, brachte es auf den Punkt:„Der heutige 26. Mai wird unter einem russischen Regime begangen, das Georgien gerade in dem Moment von Europa wegführt, in dem der EU-Beitritt zum Greifen nah war. In so einer Situation, in der wir erneut Gefahr laufen, unsere Unabhängigkeit zu verlieren, ist der Kampf wichtiger als die Feier.“
Er schloss mit einem Aufruf:„Morgen findet ein Protest vor dem Büro der Regierungspartei Georgischer Traum statt, organisiert von Ertoba – einer Bewegung, die den Widerstand aus Zivilgesellschaft und Protestgruppen bündelt. Dort verkünden wir die nächsten Schritte im Kampf gegen das russische Regime.“
Am Ende des Tages – zwischen Bühnenlicht und Straßenparolen – blieb die Spaltung sichtbar. Die eine Seite feierte die Unabhängigkeit als abgeschlossene Errungenschaft, die andere betrachtete sie als noch immer unvollendetes Projekt.Der 26. Mai erinnert die einen daran, wie weit Georgien gekommen ist – und die anderen daran, wie weit es noch gehen muss.
Doch die zentrale Frage bleibt unbeantwortet: Wer bestimmt heute, was der 26. Mai bedeutet?
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