Der Richter, der das Schweigen brach
- Kitty Jashi

- vor 13 Stunden
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Der Richter des Bezirksgerichts Tetritskaro, Vladimer Khutchua, ist heute praktisch der einzige Richter, der das in der georgischen Justiz vorherrschende Schweigen durchbrochen und sich offen gegen die im Gerichtssystem verfestigte Ungerechtigkeit gestellt hat. Einer breiten Öffentlichkeit wurde sein Name insbesondere nach den Parlamentswahlen 2024 bekannt. Seit diesem Zeitpunkt wird Vladimer Khutchua mit gerechten, prinzipientreuen, präzedenzbildenden Verfahren von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung in Verbindung gebracht.
Der Richter aus Tetritskaro, Vladimer Khutchua, gab der Klage der Georgischen Vereinigung Junger Juristen statt, die eine Verletzung des Rechts auf geheime Stimmabgabe betraf. Richter Vladimer Khutchua stellte in der mündlichen Verhandlung durch ein praktisches Experiment mehrere konkrete Verstöße gegen die Geheimhaltung der Stimmabgabe fest. Infolgedessen hob das Gericht die Wahlergebnisse von 18 Wahllokalen im Wahlkreis Nr. 25 (Zalka) sowie von 13 Wahllokalen im Wahlkreis Nr. 26 (Tetritskaro) auf.

Seit 2012 trägt Vladimer Khutchua die Robe eines Richters und trifft seine Entscheidungen auf der Grundlage seines Gewissens, seiner beruflichen Verantwortung und der Prinzipien des Rechts. Er erhebt seine Stimme zu einem Zeitpunkt, in dem das Justizsystem schweigt – gerade dies macht seine Haltung außergewöhnlich, selten und von besonderer Bedeutung für die Öffentlichkeit. Ein weiterer Präzedenzfall steht im Zusammenhang mit den im Jahr 2025 vorgenommenen Änderungen des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten.
Am 1. Dezember 2025 wurde bekannt, dass der Richter des Bezirksgerichts Tetritskaro, Vladimer Khutchua, die Verfahren in vier von ihm anhängigen Ordnungswidrigkeitensachen ausgesetzt hat. Vladimer Khutchua beantragte, dass das Verfassungsgericht jene im Sommer 2025 in das Ordnungswidrigkeitengesetz aufgenommenen Änderungen als verfassungswidrig erklärt, die unter anderem die zwingende Verhängung von Verwaltungshaft für den Fall der Nichtzahlung einer wegen einer Ordnungswidrigkeit verhängten Geldbuße vorsehen.
Zur Erinnerung: Es handelt sich um jenes Gesetz, auf dessen Grundlage die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der auf der Rustaweli-Avenue abgehaltenen Proteste am häufigsten festgenommen werden.
Wir haben ein Interview mit Richter Vladimer Khutchua geführt, das wir im Folgenden vollständig und unverändert veröffentlichen.
Tiflis24: Beginnen wir mit Ihren verfassungsrechtlichen Vorlagen. Nach dem Gesetz der „Georgischen Träumerei“ kann eine Person wegen der Nichtzahlung einer Geldbuße in eine längere Haft geschickt werden, ohne dass der Richter überhaupt das Recht auf eine individuelle Prüfung hat. Bitte erläutern Sie, warum diese Norm verfassungswidrig ist.
Verletzung fundamentaler Menschenrechte. Im Sommer 2025 wurden Änderungen an gesetzlichen Normen vorgenommen, die unter anderem geringfügigen Rowdytum sowie den Ungehorsam gegenüber einer rechtmäßigen Anordnung der Polizei betreffen. Der Gesetzgeber hat den Richter dahingehend eingeschränkt, dass in Fällen, in denen eine Person bereits zuvor eine ähnliche Ordnungswidrigkeit begangen hat, mit einer Geldbuße belegt wurde und diese nicht zahlen konnte – ausdrücklich: nicht zahlen konnte –, zwingend eine Sanktion nach Artikel 173 des Ordnungswidrigkeitengesetzes verhängt werden muss, also mindestens 30 Tage Verwaltungshaft wegen Ungehorsams gegenüber einer rechtmäßigen polizeilichen Anordnung.
Dies geschieht, ohne dass der Richter die Möglichkeit hat, die individuellen persönlichen Umstände der betroffenen Person zu würdigen: ihre Vergangenheit, ihre Tätigkeit, ihre sozioökonomische Lage sowie andere relevante Faktoren, die es dem Richter erlauben würden, eine individuell angemessene Sanktion festzulegen.
Sozioökonomische Diskriminierung.Eine Person, die über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, kann aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation eine Geldbuße in Höhe von 2.000 bis 5.000 Lari bezahlen und ist normativ nicht von Haft bedroht. Eine Person hingegen, die diese Mittel nicht hat und deren soziale und wirtschaftliche Lage es objektiv unmöglich macht, die Geldbuße zu bezahlen – was sowohl ihr selbst als auch dem Gericht von vornherein bekannt ist, da sie dies in der Verhandlung erklärt und keine der Parteien diesen Umstand bestreitet –, ist faktisch dazu verurteilt, im Falle einer erneuten ähnlichen Ordnungswidrigkeit mindestens 30 Tage Verwaltungshaft zu verbüßen, die sogar auf bis zu 60 Tage verlängert werden kann.
Tiflis24: Wenn wir Ihrer Argumentation folgen, kann man schlussfolgern, dass die parlamentarische Mehrheit Gesetzesänderungen vorgenommen hat, die eine direkte Grundlage für sozioökonomische Diskriminierung schaffen. Wie funktioniert dieses Gesetz in der Praxis und welche Verfahren haben Sie ausgesetzt?
Ich habe mehrere Verfahren ausgewählt, in denen folgende Situation vorlag: Die Betroffenen waren sozial besonders benachteiligt, einige verfügten nicht einmal über eine eigene Wohnung. Sie hatten minderjährige Kinder, waren nicht beschäftigt, hatten keine stabile Einkommensquelle und lebten im Wesentlichen von staatlichen Sozialleistungen. Sie erklärten, dass sie nicht in der Lage seien, die Geldbuße zu bezahlen. Ich kam zu dem Schluss, dass diese Regelung für sie eine konkrete Gefahr darstellt, dass ihre Rechte in Zukunft zwangsläufig verletzt werden, da sie keinerlei Möglichkeit haben, selbst die gesetzlich vorgesehene Mindestgeldbuße zu entrichten. Deshalb habe ich festgestellt, dass es sich in diesen Fällen um eine Frage der Verletzung von Menschenrechten handelt.
Tiflis24: Sie verweigern faktisch die Aburteilung von Menschen auf Grundlage einer repressiven Rechtsnorm, die vom Parlament der „Georgischen Träumerei“ verabschiedet wurde. Zuvor haben Sie erklärt, dass die Parlamentswahlen unter Verletzung des Prinzips der geheimen Stimmabgabe und damit verfassungswidrig durchgeführt wurden. Welche Reaktionen folgten auf diese Entscheidungen?
Wie Ihnen bekannt ist, begannen nach meiner Entscheidung in der Wahlsache organisierte Angriffe gegen mich und auch gegen meine Familie. Das größte „Kompromat“, das man mir nach 25 Jahren im öffentlichen Dienst – darunter 12 Jahre richterliche Tätigkeit – vorwarf, bestand darin, dass meine Entscheidung angeblich durch das Versprechen eines „Erdbeerkuchens“ meiner Ehefrau motiviert gewesen sei. Das war das größte „Kompromat“.
Ernsthaft gesprochen gab es jedoch sehr viele Lügen, sehr viel Verleumdung und massive Beleidigungen gegen mich und meine Familie – jenseits jeglicher ethischer Standards. Diese organisierte Kampagne hatte offensichtlich einen Ursprung; so etwas ist ohne Koordination und ohne ein bestimmtes Zentrum nicht möglich.
Auch öffentliche Amtsträger äußerten sich in ähnlicher Weise. Ich werde meine Vermutungen nicht aussprechen, doch es wurde deutlich, woher diese Angriffe kamen. Anhänger der Regierungspartei und auch Amtsträger beschuldigten mich, das Gesetz verletzt und ein Verbrechen begangen zu haben. Auch Abgeordnete erklärten öffentlich, ich hätte ein Verbrechen begangen. Mehr als ein Jahr ist vergangen, und niemand hat mir auch nur eine einzige Frage gestellt, ob ich das Beratungsgeheimnis verletzt oder mit jemandem Absprachen getroffen habe.
Ich erkläre heute, dass ihnen von Anfang an bewusst war, dass diese Vorwürfe völlig haltlos waren. Sie dienten lediglich dazu, die rechtlichen Grundlagen meiner Entscheidung zu überdecken. Das war das Motiv.
Tiflis24: Sind Sie der Ansicht, dass es sich um eine organisierte Attacke gegen Sie handelte?
Ganz eindeutig. Es ist unmöglich, dass zehntausende Menschen zur gleichen Zeit, zu denselben Uhrzeiten, in sozialen Netzwerken identische Inhalte verbreiten. Gleichzeitig begann eine massive Diffamierung meiner Person, meiner Familie und meiner Ehefrau – unter anderem mit dem Vorwurf, sie habe meine Entscheidung gebilligt oder sei nicht regierungstreu. Es wurde behauptet, meine Entscheidung sei im Vorfeld mit bestimmten Politikern abgestimmt gewesen, ja sogar, sie sei zwei Stunden vor einer Demonstration öffentlich angekündigt worden. Das war eine vollständige Lüge, absolut. Es ist unmöglich, dass jemand anderes wusste, welche Entscheidung ich treffen würde, bevor sie in meinem eigenen Bewusstsein gereift war. Mir wurden konkrete Straftaten vorgeworfen, doch weder Ermittlungsbehörden noch andere Stellen stellten jemals auch nur elementare Fragen.
Tiflis24: Wenn es sich um eine orchestrierte Diffamierungskampagne handelte, auf welcher Ebene wurden diese Entscheidungen getroffen?
Das kann ich nicht konkret sagen, aber es ist offensichtlich, dass diese Anschuldigungen, Verleumdungen und Angriffe nicht auf niedriger Ebene geplant wurden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit waren auch höhere Ebenen involviert. Bis heute habe ich Fragen, aber keine Antworten. Für mich und meine Familie bedeutete dies jedoch großes Leid. Für meine Kinder war es äußerst schwer zu ertragen, dass derartiger Schmutz über unsere Familie ausgegossen wurde. Es gab auch andere Fälle von verdeckten Maßnahmen hinter den Kulissen. Mir sind Fakten bekannt, und sogar beteiligte Personen haben mir davon berichtet, allerdings mit dem Hinweis, dass sie mich nicht offen unterstützen könnten, da sie sonst selbst mit Repressionen rechnen müssten.
Tiflis24: Was meinen Sie mit „Maßnahmen hinter den Kulissen“?
Dass Familienangehörige oder nahestehende Personen in jener Zeit in völlig anderen Angelegenheiten spürten, dass ihnen wegen ihrer Nähe zu mir Dienstleistungen verweigert oder Hilfe erschwert wurde. Darauf möchte ich nicht weiter eingehen. Fakt ist: Diese Entscheidung und die darauf folgenden Entwicklungen waren für mich alles andere als einfach. Ich schließe nicht aus, dass sich dies bis heute fortsetzt.
Tiflis24: Haben Sie Ihre Entscheidung jemals bereut? In einem Interview sagten Sie, man habe Ihnen entgegnet: „Warum machst du dir das Leben schwer?“ Wie lautet Ihre Antwort?
„Warum machst du dir das Leben schwer?“ – das war tatsächlich die erste Reaktion vieler. Meine Antwort ist: Ich werde niemals behaupten, fehlerlos zu sein. Aber ich werde stets belegen können, dass ich in über 13 Jahren richterlicher Tätigkeit keine einzige Entscheidung getroffen habe – ausdrücklich: keine einzige –, von der ich überzeugt gewesen wäre, dass sie meinem Gewissen, meiner Würde und meinem Verständnis von Gerechtigkeit widerspricht.
Ich werde auch niemals sagen, dass ich unter Druck stand und deshalb Entscheidungen getroffen habe. Ich stehe zu all meinen Entscheidungen und halte sie für gerecht. Besonders die Entscheidungen zu den Parlamentswahlen habe ich nach 16-stündiger Verhandlung getroffen: 16 Stunden Beweisaufnahme, 16 Stunden Anhörung der Parteien. Ich weiß, dass es die einzig richtige und gerechte Entscheidung war. Im Sitzungssaal hat keine der Parteien Einwände gegen meine Bewertung erhoben. Niemand hat erklärt, meine Einschätzung sei falsch. All dies begann erst nach der Verkündung der Entscheidung.
Tiflis24: Wie erklären Sie sich das?
Niemand hatte mit einer solchen Entscheidung gerechnet. Das ist eines unserer zentralen Probleme. In der Geschichte Georgiens gab es vermutlich keinen Präzedenzfall, in dem ein Gericht faktisch die von der Regierungspartei gebilligten landesweiten Wahlergebnisse aufgehoben und damit die reale Möglichkeit neuer Parlamentswahlen geschaffen hätte. Durch diese Entscheidung wurde ich bekannt, doch auch zuvor habe ich mit derselben Haltung gearbeitet – und tue es weiterhin. Für mich hat sich nichts geändert.
Tiflis24: Sie sagen oft, dass es im Justizsystem viele integre Richter gibt. Warum herrscht dann Schweigen? Warum sind Sie allein?
Diese Frage richtet sich an andere. Ich kann nicht beantworten, warum andere Richter schweigen und ihre Stimme nicht erheben. Ich bin der Ansicht, dass es viele gewissenhafte Richter gibt, die ihre Arbeit tun. Doch selbst von jenen, die in der Lage wären, sich gegen systemische Ungerechtigkeit zu äußern, habe ich keine Stimme gehört. Warum? Das müssen sie selbst erklären. Wer meint, dazu zu gehören, sollte sprechen.
Tiflis24: Ihre Entscheidung zu den Parlamentswahlen 2024 wird nun vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg geprüft. Wie ist Ihre Position dazu?
Die zuständigen Stellen in Georgien könnten ihre Haltung noch überdenken, denn der Europäische Gerichtshof wird von der georgischen Seite bestimmte Beweise verlangen. Man sollte meine Entscheidung sorgfältig prüfen, ihre rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen bewerten. Ich glaube nicht, dass jemand mit entsprechender Qualifikation, der die Beweise und Akten studiert und ein quasi-gerichtliches Verfahren nachvollzieht, zu einem anderen Schluss kommen kann. Jeder hat gesehen, dass die Geheimhaltung der Wahl nicht gewährleistet war. Es sollten Entscheidungen getroffen werden, damit der georgische Staat sich international nicht blamiert.
Tiflis24: Ist es dafür nicht zu spät, da der Fall bereits in Straßburg anhängig ist?
Rechtlich gesehen kann nun nichts mehr geändert werden. Aber es kann politischer Wille gezeigt werden. Warum sollte es ausgeschlossen sein, eine politische Entscheidung zu treffen und bei bestehenden Zweifeln neue, faire Wahlen durchzuführen? Das ist keine Bewertung, sondern der Hinweis darauf, dass Wege existieren.
Tiflis24: Sie sagen, es gebe offene und indirekte Kritik an Ihnen. Meinen Sie die Gesellschaft oder die Machthaber?
Der überwiegende Teil der Gesellschaft bringt mir eine Unterstützung entgegen, die für mich kaum vorstellbar war. Das allein gibt mir Hoffnung. Es gibt einzelne Politiker, die falsche Anschuldigungen erheben. Doch die Unterstützung, die ich von Bürgerinnen und Bürgern auf der Straße erfahre – wenn sie mich anhalten und mir danken –, ist für mich die größte Auszeichnung.
Tiflis24: Was möchten Sie jetzt sagen?
Alle Richter und alle Bürger sollen wissen: Wenn auch nur ein Mensch seine Stimme erhebt, ist diese Stadt nicht tot. In Georgien kann es keine Situation geben, in der nicht wenigstens ein Mensch seine Stimme erhebt und man sagt, das Recht sei tot.
Möglicherweise schwingen in manchen Aussagen auch Drohungen mir gegenüber mit. Doch ich fürchte keine Drohungen, niemand wird Druck auf mich ausüben können, und ich werde das immer laut sagen. Meinem Dienst am Recht kann mich niemand hindern.





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