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Alle dürfen stehen. Demonstrierende nicht.

Seit einigen Tagen werden aufgrund eines neuen Gesetzes der „Georgischen Traum“-Partei Personen, die wegen eines Protests auf dem Gehweg festgenommen wurden, zu Gerichtsverhandlungen vorgeladen. Ihnen wird vorgeworfen, den „Gehweg für den Personenverkehr blockiert“ zu haben – ein Vorwurf, der sich allein daraus ergibt, dass sie auf dem Gehweg (also auf dem für Fußgänger vorgesehenen Bereich) standen.


Diese Menschen hätten den Jahreswechsel, Weihnachten und die darauffolgenden Tage aller Wahrscheinlichkeit nach in Gefängniszellen verbringen müssen, wäre da nicht der Umstand gewesen, dass das Innenministerium keine ausreichenden Beweise gegen sie vorlegen konnte. Aus diesem Grund wurden sämtliche Verfahren vertagt.

Nach dem neuen Gesetz, das auf Initiative der Partei „Georgischer Traum“ eingebracht und am 10. Dezember vom umstrittenen Parlament im beschleunigten Verfahren verabschiedet wurde, drohen Bürgerinnen und Bürgern bis zu 15 Tage Haft. Auf Grundlage dieses Gesetzes werden Menschen allein dafür vor Gericht gestellt, dass sie auf dem Gehweg stehen und protestieren.

 

Am Stadtgericht Tiflis wurden die Verhandlungen in rascher Folge angesetzt

(die Liste ist nicht vollständig):

📍 N. Zh. – 25. Dezember, 13:45 Uhr, Richter Manuchar Tsatsua;

📍 M. N. – 26. Dezember, 13:30 Uhr, Richter Tornike Kapanadze;

📍 N. B. – 26. Dezember, 14:00 Uhr, Richter Tornike Kapanadze;

📍 G. S. – 26. Dezember, 13:00 Uhr, Richter Tornike Kapanadze;

📍 G. Ch. – 26. Dezember, 16:00 Uhr, Richter Zviad Tsekvava;

📍 M. T. – 26. Dezember, 16:00 Uhr, Richterin Nino Enukidze;

📍 L. U. – 29. Dezember, 11:50 Uhr, Richter Davit Makaridze;

📍 N. L. – 29. Dezember, 13:45 Uhr, Richter Manuchar Tsatsua;

📍 S. B. – 29. Dezember, 14:15 Uhr, Richter Manuchar Tsatsua.


Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass die Verfahren gegen Bürgerinnen und Bürger wegen des Stehens auf dem Gehweg denselben Richtern zugewiesen wurden. Es handelt sich um jene Richter, die bereits mit den sogenannten Fällen der „Straßenblockade“ befasst waren und diese aus Sicht der Behörden „erfolgreich“ abgewickelt haben. Dieselben Richter, die Demonstrierende allein wegen der Teilnahme an Protesten mit Geldstrafen von 5.000 Lari belegten, sollen nun über die Fälle des Stehens auf dem Gehweg entscheiden.

 

Was beinhaltet das sogenannte „Gehweg-Gesetz“?


  • Findet eine Kundgebung auf dem Gehweg oder auf einer für den Fahrzeugverkehr bestimmten Fläche statt, ist der Organisator (die verantwortliche Person) verpflichtet, sich spätestens fünf Tage vor der Durchführung der Manifestation schriftlich an die Patrouillenabteilung des Innenministeriums zu wenden, zuständig nach dem Ort der geplanten Demonstration.


  • Die schriftliche Benachrichtigung der Polizei bedeutet jedoch nicht, dass das Innenministerium der Durchführung der Kundgebung oder des Marsches zustimmt. Die Behörde kann eine „Warnung“ veröffentlichen oder den Demonstrierenden eine „alternative Zeit und/oder einen alternativen Ort“ vorschlagen.


  • Ist die Polizei der Auffassung, dass die Demonstration gegen diese Regeln verstößt, gewährt sie eine Frist von 15 Minuten, um den „Gesetzesverstoß zu beenden“. Danach werden die Beteiligten zur Verantwortung gezogen.


  • Bei einem Verstoß gegen diese Regelungen ist zunächst eine Verwaltungshaft von bis zu 15 Tagen vorgesehen (im Fall des Organisators bis zu 20 Tage). Bei einem weiteren Verstoß wird ein Strafverfahren eingeleitet.

 

Bewertung des Ombudsmanns

Zu dem Gesetz, das die Meinungsfreiheit einschränkt, nahm der Ombudsmann am 17. Dezember Stellung.


Nach Auffassung des Bürgerbeauftragten darf das neue Gesetz, das die Durchführung von Demonstrationen auf dem „für den Personenverkehr bestimmten Bereich“ regelt, vom Innenministerium nicht in einer Weise angewendet werden, die faktisch einer Genehmigungspflicht für Demonstrationen gleichkommt.

 

Der Bürgerbeauftragte ist der Ansicht, dass das Innenministerium Demonstrationen nicht beschränken darf, solange die für Fußgänger entstehenden Beeinträchtigungen „nicht ein ausreichend hohes Maß an Erheblichkeit erreichen“.

 

 

Bemerkenswert ist, dass die Pflicht zur „vorherigen Benachrichtigung“ auch im geltenden Recht bereits für Demonstrationen vorgesehen ist, die den Fahrzeugverkehr beeinträchtigen würden. Der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, dass nach Auffassung der Polizei eine Demonstration nun nur dann als legitim gilt, wenn das Innenministerium ihrer Durchführung ausdrücklich zugestimmt hat.


Doch wo bleibt in diesem Fall Artikel 21 der Verfassung, in dem unmissverständlich festgeschrieben ist, dass Bürgerinnen und Bürger das Recht haben, ihren Protest


öffentlich und unbewaffnet ohne vorherige Genehmigung zum Ausdruck zu bringen?

Genau diese Frage ist zum Streitpunkt zwischen Juristen und der Polizei geworden: Reicht eine Benachrichtigung des Innenministeriums aus oder müssen die Beteiligten auf eine ausdrückliche Zustimmung warten?


Was bedeutet „teilweise Blockierung des Verkehrsraums“ konkret? Wird dadurch die Meinungsfreiheit eingeschränkt und damit auch die Verfassung Georgiens verletzt?



Photo credit: Netgazeti
Photo credit: Netgazeti

Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, haben wir ein Interview mit dem Organisator der Proteste, dem Juristen Kacha Tsikarishvili, geführt. Er hat wegen des neuen Gesetzes der „Georgischen Traum“-Partei bereits eigene Eingaben beim Verfassungsgericht eingereicht.

Kacha Tsikarishvili erklärt gegenüber Tiflis24, dass er mit seiner Verfassungsklage die Verletzung zweier Artikel geltend macht. Seiner Auffassung nach schränkt das sogenannte „Gehweg-Gesetz“ unmittelbar die folgenden Artikel der Verfassung Georgiens ein:

 

Artikel 9: Unantastbarkeit der Menschenwürde;

Artikel 21: Versammlungsfreiheit;

 

Tiflis24: Nach den Verfahren wegen angeblicher Straßenblockaden hat das Innenministerium nun auch Verfahren wegen der „teilweisen Blockierung von Gehwegen“ vor Gericht gebracht. Warum hat die Partei „Georgischer Traum“ Ihrer Ansicht nach das sogenannte Gehweg-Gesetz verabschiedet, und worin sehen Sie dessen rechtliche Grundlage?


Kakha Tsikarishvili: Der „Georgische Traum“ hat dem Gesetz eine Philosophie zugrunde gelegt, nach der der Gehweg allen gehört – außer den Demonstrierenden. Demonstrierende werden wie die Kinder des Nachbarn behandelt: Sie sollen um Erlaubnis bitten, um auf dem Gehweg stehen zu dürfen, und selbst dann so stehen, dass sie niemanden stören. Nach internationalem Recht ist es jedoch genau umgekehrt. Der Gehweg gehört den Demonstrierenden sogar mehr als allen anderen. Das internationale Menschenrechtsrecht erkennt ausdrücklich an, dass Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Versammlungen das Recht haben, in einem gewissen Maße zu stören. Gesellschaft und Staat müssen eine bestimmte Intensität und Dauer dieser Beeinträchtigung hinnehmen. Genau deshalb ist das Recht auf Versammlung in der Verfassung verankert und steht über vielen anderen Rechten, mit denen es nach Auffassung des „Georgischen Traums“ angeblich kollidiert.


Tiflis24: Wie begründen Sie Ihre Verfassungsbeschwerden, und warum halten Sie das Gesetz des „Georgischen Traums“ für verfassungswidrig?


Kakha Tsikarishvili: Dieses Gesetz widerspricht unmittelbar dem Wortlaut der Verfassung. Es verletzt Artikel 9 der Verfassung. Es gibt eine klare verfassungsgerichtliche Praxis, wonach eine offensichtlich unverhältnismäßige Strafe die Menschenwürde verletzt. Einen Menschen für das bloße Stehen auf dem Gehweg für 15 Tage in Haft zu nehmen, verletzt nicht nur die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, sondern greift auch die Menschenwürde an.


Zugleich garantiert die Verfassung ausdrücklich, dass alle das Recht haben, sich öffentlich und unbewaffnet ohne vorherige Genehmigung zu versammeln (Artikel 21 der Verfassung). Im neuen Gesetz des „Georgischen Traums“ wird dieses Recht jedoch faktisch aufgehoben und durch Pflichten ersetzt.

Nach dem neuen Gesetz ist vorgesehen, dass bei Versammlungen auf Gehwegen oder Verkehrsflächen eine vorherige Benachrichtigung erfolgt. Das ist grundsätzlich zulässig und mit der Verfassung vereinbar. Das Problem beginnt jedoch danach.

Bisher verstand die Verfassung diese Benachrichtigung als mögliche einseitige Kommunikation zwischen Bürger und Staat. Darüber hinaus verlangte sie nichts Weiteres. Selbst diese Benachrichtigung war keine zwingende Pflicht, sondern lediglich eine zulässige Möglichkeit.


Die Logik war klar: Wenn eine Versammlung auf einer Verkehrsfläche stattfindet, soll der Staat informiert werden, damit er Schutzmaßnahmen ergreifen kann – sowohl zum Schutz der Demonstrierenden als auch der Rechte Dritter. Das frühere Gesetz ging sogar weiter und verpflichtete den Staat zur Kommunikation mit den Organisatoren, zur Information über Pflichten und zur Unterbreitung alternativer Vorschläge.

Zwischen Februar und Oktober 2025 habe ich über neun Monate hinweg jeden Monat Benachrichtigungen über geplante Sperrungen der Rustaweli-Allee eingereicht. Niemals wurde mir ein alternativer Ort oder eine alternative Route vorgeschlagen. Niemals wurde ich über meine Pflichten informiert. Trotzdem wurden zahlreiche Menschen mit Geldstrafen belegt. Eine Woche nach Einreichung einer Benachrichtigung wurde ich selbst bestraft. Der Staat hat damit sein eigenes Versammlungsrecht verletzt und seine gesetzlichen Pflichten nicht erfüllt.


Mit dem Gesetz vom 10. Dezember wurde nun auch der „für den Personenverkehr bestimmte Bereich“ – also der Gehweg – einbezogen. Doch der Gesetzgeber hat nicht definiert, was darunter konkret zu verstehen ist. Ist der Platz vor dem Parlament ein Gehweg? Sind die Wiesen oberhalb von Tiflis, auf denen Hirten ihre Schafe halten, ebenfalls ein solcher Bereich? Diese Unklarheiten hätte das Gesetz zwingend klären müssen.


Tiflis24: Welche weiteren Mängel sehen Sie in diesem Gesetz?


Kakha Tsikarishvili: Das größte Problem ist die Einführung eines Systems verbindlicher Anordnungen. Während das frühere Recht lediglich Empfehlungen zuließ, schreibt das neue Gesetz nun „verbindliche Anweisungen“ vor, die Zeit, Ort und Bewegungsrichtung festlegen. Damit wird faktisch ein Verbotsregime geschaffen.

Das Innenministerium kann Versammlungen zu bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten und in bestimmten Richtungen untersagen und gleichzeitig vorschreiben, wann, wo und wie sie stattzufinden haben.

Seit dem 11. Dezember habe ich entsprechende Benachrichtigungen eingereicht und das Innenministerium über geplante Proteste vor dem Parlament informiert.


Tiflis24: Dennoch werden Personen vor Gericht geladen, weil sie zwischen dem 11. und 20. Dezember auf Gehwegen protestiert haben. Bedeutet das, dass Ihre Benachrichtigungen ignoriert wurden?


Kakha Tsikarishvili: Ja. Das Innenministerium veröffentlichte seine Anweisungen erst für den Zeitraum vom 21. Dezember bis 9. Januar. Für den Zeitraum vom 11. bis 20. Dezember erhielt ich keinerlei Antwort.


Tiflis24: Vor Gericht wurden Ihre Anträge als Beweise infrage gestellt. Angeblich fehlten Eingangsbestätigungen oder formelle Voraussetzungen. Was ist tatsächlich passiert?


Kakha Tsikarishvili: Ich habe die Anträge am 11. Dezember eingereicht und war danach mehrfach bei der Polizei. Am 18. Dezember wurde mir offiziell bestätigt, dass alle Anträge registriert sind und eine 30-tägige Bearbeitungsfrist gilt. Ich verfüge über SMS-Bestätigungen des Innenministeriums. Alle neun Anträge haben Registrierungsnummern. Ich weiß nicht, welche weiteren Belege verlangt werden.


Tiflis24: Warum behauptet das Innenministerium dennoch, es habe keine Benachrichtigungen gegeben?


Kakha Tsikarishvili: Das ist ausgeschlossen. Es handelt sich um ein internes Koordinationsversagen. Vor Gericht klammern sich die Vertreter des Innenministeriums an jede mögliche Ausrede. Auch vor Ort wusste die Polizei nichts von meinen Anträgen. Es gibt keine einheitliche Linie.


Tiflis24: Ein hoher Polizeibeamter erklärte, eine bloße Benachrichtigung reiche nicht aus, es sei eine Zustimmung des Innenministeriums erforderlich. Verlangt das Gesetz dies?


Kakha Tsikarishvili: Nein. Das Gesetz ist hier eindeutig. Nur wenn eine reale Gefahr besteht, kann das Innenministerium innerhalb von drei Tagen verbindliche Anweisungen erteilen. Andernfalls nicht. Entweder kennt der Beamte das Gesetz nicht oder er interpretiert es bewusst falsch.


Tiflis24: Warum verlangen Polizisten Dinge, die im Gesetz nicht vorgesehen sind?


Kakha Tsikarishvili: Der „Georgische Traum“ hat eine politische Entscheidung getroffen: Die Proteste auf der Rustaweli-Allee sollen um jeden Preis beendet werden. Dafür wurde ein Gesetz geschaffen, das das Stehen auf Gehwegen kriminalisiert. Danach erhielt die Polizei den Auftrag, Menschen durch Festnahmen einzuschüchtern. Wenn Stehen auf dem Gehweg als Haftgrund gilt, kommen weniger Menschen zu Protesten. Das ist die dahinterstehende Logik.


Tiflis24: Welche Erwartungen haben Sie an die Verfassungsbeschwerde?


Kakha Tsikarishvili: Ich gehe davon aus, dass die Verfahren mindestens zwei Jahre verschleppt werden. Dennoch müssen alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft werden. Es braucht fundierte juristische Gutachten, die belegen, warum diese Gesetze verfassungswidrig sind.


Tiflis24: Die heutigen Verfahren wurden wegen fehlender Beweise vertagt. Was zeigt das?


Kakha Tsikarishvili: Es zeigt ein massives Koordinationsversagen im Innenministerium bei Auslegung und Anwendung des Gesetzes.


Tiflis24: Warum werden diese Fälle immer denselben Richtern zugewiesen?


Kakha Tsikarishvili:Es gibt eine enge Spezialisierung. Diese Richter gelten als besonders loyal. Bei rund 300 Richtern vertraut das System nur wenigen. Überraschungen sind nicht erwünscht.


Tiflis24: Warum bleiben Richter trotz offenkundiger Verfassungsverstöße still?


Kakha Tsikarishvili: Weil im Justizsystem ein Klima der Einschchüchterung herrscht. Richter, die früher Kritik äußerten, verloren ihre Posten. Disziplinarrecht wird als Druckmittel eingesetzt. Wer heute den Mund aufmacht, riskiert seine Karriere.

Trotz des sogenannten „Gehweg-Gesetzes“ erklären die Teilnehmenden der proeuropäischen Proteste, dass ihr Widerstand fortgesetzt wird. Jeden Samstag finden weiterhin Demonstrationszüge statt. Am 27. November, dem 395. Tag des kontinuierlichen Protests, zog ein Marsch von der Staatlichen Universität Tiflis in Richtung Parlament. Die zentrale Botschaft lautete: „Die Zukunft gehört uns.“

 

 

 

 

 

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