Die Inszenierung der Gewalt – wie Georgian Dream das eigene Volk als Statisten benutzt
- Goga Machavariani
- vor 11 Stunden
- 6 Min. Lesezeit

Ein Land im Dauerzustand der Provokation
Was am 4. Oktober in Tiflis geschah, war kein Zufall. Es war ein sorgfältig geplantes Schauspiel, bei dem die georgische Regierungspartei Georgian Dream einmal mehr bewies, dass sie politische Realität nicht gestaltet, sondern inszeniert. Ein Staat, der seine Bürger nur noch als Statisten für eigene Fernsehbilder benutzt – das ist das Georgien des Jahres 2025.
Seit Monaten warnen Beobachter, Journalisten und Menschenrechtsorganisationen vor der wachsenden Gewaltbereitschaft staatlicher Strukturen. Und doch gelingt es der Regierung, jede Eskalation als „notwendige Ordnungspolitik“ zu verkaufen. Der 4. Oktober sollte – wenn man den Erzählungen von Teilnehmer:innen glaubt – zu einem Tag der Hoffnung werden. Doch am Ende blieb nur der bittere Nachgeschmack einer staatlich orchestrierten Provokation, die an sowjetische Drehbücher erinnerte: gleiche Methoden, gleiche Regie, nur bessere Kameras.
„Für uns, die seit über 300 Tagen auf den Straßen stehen…“
Ein Aktivist, der an jenem Tag an der Demonstration teilnahm, schilderte im Gespräch mit tiflis24.de, was viele spürten, aber nur wenige öffentlich auszusprechen wagen:
„Für uns alle, die seit über 300 Tagen an diesen Protesten teilnehmen, war das Hauptziel selbstverständlich der Regierungswechsel – und die Rückkehr Georgiens auf den europäischen Integrationsweg. Am 4. Oktober entstand die Hoffnung, dass die Regierung tatsächlich gestürzt werden könnte. Diese Hoffnung speiste sich aus den klaren Aussagen der Organisatoren, die versicherten, dass an diesem Tag der Wechsel stattfinden würde.“
Es ist eine bittere Ironie, dass genau diese Hoffnung von der Regierung zur Waffe gemacht wurde. Während die Menschen glaubten, ein Kapitel der Geschichte aufzuschlagen, schrieb Georgian Dream bereits das Drehbuch für die nächste Episode ihrer Opferinszenierung.
Hoffnung als Falle
Die Regierung weiß, wie sie Emotionen manipulieren muss. Sie hat aus den Protesten der letzten Jahre gelernt – oder besser gesagt: gelernt, wie man sie nutzt. Während im Westen über „Zivilgesellschaft“ gesprochen wird, versteht Georgian Dream darunter lediglich eine Bühne, auf der sie ihre Gegner diskreditiert.
Dass sich die Demonstranten am 4. Oktober von den Organisatoren mobilisieren ließen, war keine Schwäche – es war der Beweis dafür, dass in Georgien noch immer Menschen an politische Veränderung glauben. Und genau dieses Vertrauen wurde von der Regierung gezielt missbraucht.
„Ich weiß nicht, was die Organisatoren zu dieser Behauptung bewogen hat“, sagt der Demonstrant. „Vielleicht hätte das niemand geglaubt, wenn es nicht von Levan Khabeishvili selbst gekommen wäre.“
Die Erwähnung des Oppositionsführers ist entscheidend. Denn was am 4. Oktober passierte, war nicht nur eine staatliche Provokation, sondern ein Versuch, die Opposition endgültig zu diskreditieren.
Ein Drehbuch der Eskalation
In den Stunden vor der Demonstration wurde die Atmosphäre in Tiflis immer angespannter. Augenzeugen berichten von ungewöhnlich vielen uniformierten Kräften in Zivil, von aufgestellten Kameras an neuralgischen Punkten und von Männern, die offenbar „zufällig“ am Rande der Kundgebung standen aber alle denselben Funkempfänger trugen.
Wer das georgische Innenministerium kennt, weiß: Zufälle gibt es dort nicht.
Die Regierung brauchte Bilder nicht vom friedlichen Protest, sondern von „gewalttätigen Radikalen“. Also musste Gewalt entstehen. Und wenn sie nicht von allein kam, dann wurde sie eben produziert.
„Sie wollten die Gewalt filmen“
Der Aktivist beschreibt die Situation so:
„Als wir vor dem Parlament standen, war von Anfang an spürbar, dass etwas nicht stimmt. Polizisten ohne Abzeichen, Männer in Zivil, Kameras, die auf uns gerichtet waren. Es war, als warteten sie nur darauf, dass jemand einen Stein wirft. Später erfuhren wir, dass genau das der Plan war: sie wollten die Gewalt filmen, um sie den Demonstranten anzuhängen.“
Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern georgische Alltagspraxis. In einem Land, in dem die Regierung ihre Macht nicht mehr über Legitimität, sondern über Angst stabilisiert, ist jede Kamera ein potenzielles Repressionsinstrument.
Man braucht keine Fantasie, um sich vorzustellen, wie im Regierungsgebäude noch in derselben Nacht die Ausschnitte sortiert wurden: „Da, seht der Junge mit der Flagge, das kann man als Angriff zeigen. Und da eine Frau schreit, das nehmen wir für den Ton.“
Gewalt als Staatsraison
Dass Gewalt in Georgien längst zur Kommunikationsstrategie der Regierung geworden ist, zeigt sich nicht nur in der Polizeipraxis. Es ist eine politische Ästhetik eine Form, in der Macht sichtbar gemacht werden soll. Wer schreit, wer blutet, wer weint, erinnert das Publikum daran, dass Georgian Dream der Regisseur bleibt.
Während Premier Irakli Kobachidze in seinen monothematischen Pressekonferenzen von „Sicherheitsinteressen“ spricht, agiert sein Apparat nach einer einfachen Logik: Wer protestiert, verliert seine Rechte.
Die Frage ist nicht mehr, ob die Regierung Gewalt einsetzt, sondern wie kunstvoll sie sie choreografiert.
Die Produktion der Angst
Die Szenen vom 4. Oktober sind dafür exemplarisch. Tränengas, Wasserwerfer, Schlagstöcke und dazwischen die obligatorische Fernsehkamera. Später am Abend liefen die Bilder in den staatlichen Sendern: „Chaotische Szenen im Zentrum von Tiflis – die Polizei verhindert gewaltsamen Umsturzversuch.“
So einfach lässt sich Geschichte in Georgien schreiben, wenn man die Medien besitzt.
Dabei war es kein Umsturzversuch, sondern ein Versuch der Bürger, überhaupt gehört zu werden. Ein Ruf nach Europa, nach Würde, nach dem Ende der Lüge. Aber in der Welt von Georgian Dream ist Würde nur ein westliches Exportprodukt, das man nach Belieben importiert oder boykottiert je nach politischer Wetterlage.
Zwischen Demokratieattrappe und Polizeistaat
Die Regierung von Georgian Dream versteht sich selbst als Verteidigerin der Stabilität. Tatsächlich verteidigt sie nur ihr Monopol auf Instabilität.
Wer Stabilität sagt, meint Kontrolle. Wer Kontrolle sagt, meint Angst. Und wer Angst verbreitet, nennt das in Tiflis „Patriotismus“.
Die Proteste am 4. Oktober waren die Folge einer jahrelangen politischen Ermüdung – einer Gesellschaft, die gelernt hat, dass Reformversprechen nur noch PR-Übungen sind. Doch diesmal glaubten viele, es könnte anders sein.
Die Bühne Europa
„Wir wollten zeigen, dass Georgien zu Europa gehört“, sagt der Demonstrant. „Dass wir keine Angst mehr haben. Aber am Ende sah es im Fernsehen so aus, als wären wir die Aggressoren.“
Es ist das alte Spiel der georgischen Propaganda: Europa als Feindbild und Ziel zugleich. Wenn es passt, wird die EU zitiert. Wenn nicht, wird sie beschuldigt, „geopolitisch voreingenommen“ zu sein.
Während Brüssel noch diplomatisch formuliert, wie „besorgt“ man sei, lacht man in Tiflis über diese Wortwahl. Denn Georgian Dream weiß längst, dass die EU keine roten Linien zieht – zumindest nicht für sie.
Die innere Logik der Lüge
Die Regierung agiert nach einem einfachen Prinzip: Wenn die Realität nicht in die Erzählung passt, wird sie eben neu gedreht.
Am 4. Oktober zeigte sich das in Reinform. Die Menschenmenge, die friedlich protestierte, wurde in den Nachrichtensendungen zu einer anonymen Bedrohung stilisiert. Und aus den Prügelnden in Uniform wurden Helden der Ordnung.
„Es ist schwer, die Wahrheit zu sagen, wenn das Mikrofon immer nur den Lügnern gehört“, sagt der Demonstrant leise. „Aber wir wissen, was passiert ist.“
In dieser einen Aussage steckt die Tragödie des Landes.
Vom Opfer zum Schuldigen
Wer in Georgien auf die Straße geht, riskiert nicht nur Schläge, sondern auch seinen Ruf. Die Regierung hat gelernt, dass Repression nicht nur körperlich, sondern auch psychologisch funktionieren kann.
So wurde aus der Demonstration ein Symbol für die Perversion der politischen Kommunikation: das Opfer als Täter, der Täter als Retter.
Und während die Regierung ihre Version der Geschichte in allen Kanälen verbreitete, begannen die westlichen Botschaften – höflich wie immer – zu „beobachten“.
Ein Lehrstück in politischer Manipulation
Der 4. Oktober wird in Erinnerung bleiben – nicht wegen der Gewalt, sondern wegen der Perfektion, mit der sie vorbereitet war.
Es war eine Inszenierung mit klarer Dramaturgie: Erwartung, Hoffnung, Eskalation, Rechtfertigung. Und am Ende die moralische Auflösung: Georgian Dream als angeblich „verantwortungsbewusste Kraft“, die „den Frieden gewahrt“ habe.
Das Problem ist: Viele glauben es.
Denn wer seit Jahren in einer medialen Filterblase lebt, in der jede Kritik als Verrat gilt, hat längst verlernt, zwischen Propaganda und Realität zu unterscheiden.
Die Stille danach
Nach der Auflösung der Demonstration blieb Tiflis still. Nicht das Schweigen der Erschöpfung, sondern das Schweigen der Ernüchterung.
„Wir sind nach Hause gegangen, aber nicht, weil wir aufgeben wollten“, sagt der Demonstrant. „Sondern weil wir verstanden haben, dass sie auf Gewalt aus waren. Und wir wollten ihnen dieses Bild nicht geben.“
Diese Entscheidung nicht mitzuspielen im Theater der Macht ist vielleicht die stillste, aber mutigste Form des Widerstands.
Das wahre Ziel: Einschüchterung
Die Ereignisse vom 4. Oktober hatten nur ein Ziel: den Menschen beizubringen, dass Widerstand zwecklos sei. Dass man nicht nur Angst vor Knüppeln haben sollte, sondern auch vor der Bedeutungslosigkeit.
Die Regierung braucht keine Massenverhaftungen mehr, um ihre Macht zu demonstrieren. Es reicht, wenn sie den Menschen das Gefühl gibt, dass niemand zuhört.
Das ist die wahre Gewalt – die der Gleichgültigkeit.
Die Wiederholung ist programmiert
Wer glaubt, der 4. Oktober sei ein Einzelfall, hat nichts verstanden.
Jede neue Protestwelle wird nach demselben Muster ablaufen: Hoffnung, Mobilisierung, Provokation, Gewalt, Schuldumkehr.
Solange die Strukturen der Straflosigkeit intakt bleiben, solange Staatsanwälte mehr Angst vor der Wahrheit als vor dem Gesetz haben, wird sich nichts ändern.
Und während Europa weiterhin diplomatisch formuliert, wächst in Georgien die Erkenntnis, dass Demokratie ohne Konsequenzen nur eine Dekoration ist.
Ein Staat gegen seine Bürger
Georgian Dream hat es geschafft, den Begriff „Volk“ zu monopolisieren. Jeder, der nicht in ihre Definition passt, wird zum Feind erklärt.
Diese Regierung braucht keine Ideologie, sie braucht nur Feindbilder. Und wenn keine da sind, schafft sie welche – aus Journalisten, Aktivisten, Studenten.
Was am 4. Oktober geschah, war kein Unfall. Es war ein Staat, der seine Bürger zu Requisiten degradierte.
Und Europa schaut zu
Die EU wird wieder „besorgt“ sein. Der Europarat wird „die Lage beobachten“. Und Washington wird „alle Seiten zur Zurückhaltung aufrufen“.
In Tiflis lacht man darüber – und macht weiter.
Doch irgendwann, vielleicht schon bald, wird Europa verstehen, dass Schweigen keine Stabilität schafft.
Bis dahin bleibt Georgien ein Land, das sich in Zeitlupe selbst demontiert – mit einem Lächeln für die Kamera.
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