Wahlboykott in Georgien: Warum die Opposition nicht länger Komplize spielen will
- T. Kartliani

- 21. Juli
- 3 Min. Lesezeit
Aufstand gegen das autoritäre Spektakel – Tsutskiridze über Boykott, Demokratie und Deutschlands Rolle
Am 19. Juli füllten sich die zentralen Alleen von Tiflis mit Hunderten Demonstrierenden, die einem klaren Aufruf folgten: Boykottiert die anstehenden Kommunalwahlen am 4. Oktober. Was auf den ersten Blick wie eine gewöhnliche Kundgebung wirkte, entpuppte sich rasch als machtvolle politische Inszenierung – nicht im Dienste des Regimes, sondern gegen es.
Organisiert von einem Bündnis aus Oppositionsparteien und zivilgesellschaftlichen Gruppen, war der Protestmarsch Ausdruck einer Strategie, die viele als riskant, aber notwendig betrachten: den bewussten Entzug der Legitimation. Denn nach den umstrittenen Parlamentswahlen vom 26. Oktober 2024, die von internationalen Beobachtern wie dem Europäischen Parlament als weder frei noch fair bezeichnet wurden, scheint für viele in der Opposition klar: Wer jetzt noch mitspielt, spielt mit.
„Ein russisches Theaterstück – ohne uns“
In einem Interview mit Tiflis24 erläuterte Levan Tsutskiridze, Vorsitzender der Oppositionspartei „Freedom Square“, warum seine Bewegung den Urnengang nicht als demokratischen Akt, sondern als institutionalisierte Täuschung betrachtet.
„An den Kommunalwahlen teilzunehmen hieße, die gefälschten Ergebnisse vom 26. Oktober nachträglich zu legitimieren“, so Tsutskiridze. „Das ist keine bloß moralische Haltung – es ist ein Akt politischer Selbstverteidigung. Wir verweigern uns dem russisch inspirierten Theaterspiel.“
Wenig überraschend verweist er auf das Narrativ der „Show-Demokratie“, bei der Form und Verfahren intakt erscheinen mögen, der Inhalt aber längst von Machtmissbrauch und autoritärer Kontrolle ausgehöhlt ist.
Verfassung contra Verstand?
Rechtlich betrachtet sind die Kommunalwahlen von den Parlamentswahlen unabhängig – sie müssen laut Verfassung ohnehin stattfinden. Doch Tsutskiridze kontert:
„Auch wir haben verfassungsmäßige Rechte – darunter das Recht, uns zu verweigern, wenn ein System missbraucht wird. Es geht nicht darum, sich zurückzuziehen, sondern darum, die Kampfzone zu verlagern: von den Wahlurnen auf die Straße.“
Gakharia, Khukhashvili und der Mythos der strategischen Teilnahme
Nicht alle Oppositionsakteure teilen Tsutskiridzes Analyse. Vertreter der Partei von Ex-Premier Giorgi Gakharia etwa befürworten eine aktive Teilnahme an den Kommunalwahlen – als Bühne zur Propagandaabwehr. Tsutskiridze bleibt gelassen, aber bestimmt:
„Der eigentliche Frontverlauf liegt nicht in den Wahllokalen, sondern in der öffentlichen Verweigerung. Wer sich auf die Showbühne der Regierung begibt, liefert ihr genau das, was sie will: den Anschein von Normalität.“
Auch Politologen wie Gia Khukhashvili argumentieren für eine „taktische Teilnahme“. Tsutskiridzes Antwort fällt höflich, aber eindeutig aus:
„Sie dürfen das gern so sehen. Ich halte es für einen Fehler. Unser Ziel ist ein freies Land – dafür braucht es Klarheit, nicht Kompromissbereitschaft mit der Unfreiheit.“
Boykott als Auftakt – nicht als Rückzug
Ein Missverständnis will Tsutskiridze gar nicht erst aufkommen lassen: Der Boykott ist nicht das Ende des politischen Engagements – er ist dessen Auftakt. Eine neue landesweite Kampagne sei bereits in Vorbereitung. Im Fokus: die ländlichen Regionen, wo „Georgian Dream“ seine letzten Bastionen hält.
„Wir werden eine pluralistische, inklusive und zukunftsfähige politische Bewegung aufbauen. Eine, die nicht nur sagt, was falsch läuft, sondern auch zeigt, wie es besser geht.“
Mit dem Mittel direkter Demokratie und partizipativer Formate will die Bewegung Vertrauen zurückgewinnen – dort, wo es am nötigsten ist: außerhalb der Hauptstadt.
Deutschland als Leuchtturm
Angesprochen auf die internationale Dimension des georgischen Widerstands, betont Tsutskiridze vor allem die Rolle Deutschlands.
„Deutschland ist für uns mehr als nur ein Partner. Es ist ein verlässlicher Anker in stürmischen Zeiten. Während Georgian Dream Nebelkerzen wirft und Desinformation verbreitet, bleibt Berlin klar – und dafür sind wir dankbar.“
Auf die Frage, ob eine intensivere Sanktionspolitik zu erwarten sei, blieb Tsutskiridze diplomatisch, aber zuversichtlich:
„Ich glaube, dass Deutschland sehr genau beobachtet, was hier passiert – und die richtigen Schlüsse zieht. Die Freundschaft wird zurückkehren, stärker als je zuvor.“
Zwischen Hoffnung und Realität: Was kommt nach dem Boykott?
Die große Frage bleibt: Kann ein Wahlboykott in einem ohnehin fragmentierten politischen System etwas bewirken? Für Tsutskiridze liegt die Antwort in der Glaubwürdigkeit. Eine Opposition, die sich nicht korrumpieren lässt – das ist seine Vision.
„Demokratie fragt nicht um Erlaubnis. Sie fordert sich selbst ein. Und wir fordern einen Staat, der uns gehört – nicht Oligarchen, nicht fremden Mächten.“
Ob diese Strategie aufgeht, hängt nicht nur vom Durchhaltevermögen der Opposition ab, sondern auch von der Fähigkeit Europas, dem georgischen Demokratietheater endlich die Maske vom Gesicht zu reißen.
Neue Frontlinien – altes System
Der 19. Juli könnte als Wendepunkt in die politische Geschichte Georgiens eingehen – als Moment, in dem sich Teile der Opposition gegen den institutionellen Selbstbetrug entschieden. Nicht, weil sie keine Alternativen hätten, sondern weil sie die Farce nicht länger mittragen wollen.
Ob dieser Widerstand Früchte trägt, wird sich zeigen. Klar ist jedoch: In den Straßen von Tiflis wird nicht nur gegen Wahlen protestiert. Es wird für ein anderes Georgien gekämpft.




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