Katharina Blum in Tiflis: Wie man Kritik in Sabotage verwandelt
- Goga Machavariani

- 14. Aug.
- 4 Min. Lesezeit
Wie eine Petition zur „Sabotage“ erklärt wird – und die Regierung ihre Kritiker aus dem Staatsdienst entfernt
Am 9. August marschierten in Tiflis ehemalige Staatsbedienstete – viele von ihnen einst im georgischen Außenministerium beschäftigt – unter europäischer Flagge durch die Straßen. Ihr gemeinsamer Nenner: Sie hatten den Preis für ein politisches Bekenntnis gezahlt. In den vergangenen Monaten verloren zahlreiche Ministeriumsmitarbeiter, die an der EU-Integration arbeiteten, ihre Posten, nachdem sie eine Petition gegen die Ankündigung von Premier Irakli Kobachidse vom 28. November unterzeichnet hatten, die Beitrittsbemühungen bis 2028 auszusetzen. Eine Rede, die seither landesweit Proteste anheizt.
Unter den Entlassenen: Giga Sopromadse, Gründer und Vorstandsmitglied der Berufsvereinigung „Verfassungsartikel 78“ sowie früherer Exekutivsekretär des Tiflisser Stadtrats für Behindertenfragen. Sein Rausschmiss, so Sopromadse, sei auf direkten Befehl von Bürgermeister Kacha Kaladze erfolgt – angeblich auf Betreiben des Leiters des Gesundheits- und Sozialdienstes der Stadt. Mehrere andere Ratsmitarbeiter mussten ebenfalls gehen. Sopromadse sieht einen klaren politischen Hintergrund.
Öffentliche Stigmatisierung statt Argumente
Der Grund war einfach: Wir hatten die Petition gegen Kobachidses Aussage unterschrieben und verbreitet. Natürlich haben wir protestiert – wie schon bei der ersten Lesung des sogenannten ‚russischen Gesetzes‘. Die Petitionen waren keine zentral koordinierte Aktion, sondern eine spontane Reaktion, sagt er.
Nur wenige Tage später brandmarkte Kaladze die Petition öffentlich als „Sabotage“ und „versuchten Staatsstreich“ – mit der unmissverständlichen Zusage, dass dies Konsequenzen haben werde. Die öffentliche Stigmatisierung der Unterzeichner erinnert dabei unweigerlich an Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“: Auch dort wird das Leben eines Menschen durch die Mechanismen eines Macht- und Meinungskartells zerstört, weil eine private Entscheidung in einen öffentlichen Skandal verwandelt wird. In Tiflis sind es diesmal nicht Boulevardblätter, sondern offizielle Verlautbarungen, die kritische Beamte zu „Feinden“ der Stadt stilisieren.
Bald folgten Berichte über Einschüchterungen gegen Unterzeichner. Einige zogen ihre Unterschrift unter Druck zurück. Mamuka Mdinaradze, Fraktionschef der Regierungspartei, erklärte spitz, es sei ohnehin bedeutungslos, ob jemand seine Unterschrift zurückziehe.
Drohungen hinter verschlossenen Türen
„Das war eine klare Drohung“, erinnert sich Sopromadse. Zunächst habe es interne Anrufe gegeben: Man solle die Unterschrift zurückziehen, um den Arbeitsplatz zu behalten. Dann seien aus verschiedenen Behörden – darunter auch dem Tiflisser Stadtrat – Berichte aufgetaucht, wonach Abteilungsleiter angewiesen wurden, Proteste unter Angestellten zu unterdrücken. Ziel: so viele Rückzieher wie möglich. „Dutzende sagten uns, sie könnten dem Druck von oben nicht länger standhalten.“
Der Fall sei nur ein Mosaikstein in einem größeren Muster: Als kritischer Gegner des „russischen Gesetzes“ sei Sopromadse bereits vor der Petition ins Visier geraten – Boni wurden gestrichen, Aufgaben entzogen, Sitzungen ohne ihn abgehalten. Die von Mdinaradse im Dezember präsentierte Gesetzesänderung zur „Vereinfachung“ von Reorganisationen habe der Regierung schließlich den idealen Hebel gegeben: Seit Anfang 2025 folgten Entlassungen, Degradierungen und Umwandlungen unbefristeter in befristete Verträge. Eine weitere Änderung untersagte Gerichten, unrechtmäßig Entlassene nach Reorganisationen wieder einzusetzen.
„Damit hat man den Gerichten faktisch verboten, Gerechtigkeit wiederherzustellen“, sagt Sopromadse.
Die Schwächsten zuerst
Der Druck habe sich sogar auf Familienmitglieder ausgedehnt: Wer in Behörden arbeitete oder juristisch angreifbar war, wurde gewarnt, dass Konsequenzen drohten, falls die Unterschrift nicht zurückgezogen werde.
Besonders beschämend seien, so Sopromadse, die Angriffe auf die Verletzlichsten: Eine Gebärdensprachdolmetscherin, die elf Jahre lang Live-Sitzungen der Regierung übersetzt hatte, wurde entlassen – ohne fristgerechten Bescheid, sodass keine Klage möglich war. Monatelang gab es keine Übersetzung. Ein sehbehinderter Mitarbeiter wurde auf eine schlechter bezahlte Stelle gesetzt – faktisch eine Zwangskündigung. Auch Eltern mit vier Kindern, Frauen in Mutterschutz und Mütter mit Kleinkindern waren betroffen.
Sopromadse wählte bewusst den Weg vor Gericht, nicht über den Ombudsmann: Das Verfahren beim öffentlichen Verteidiger verzögere Klagen, und sein Fall gehe über Diskriminierung hinaus. Dutzende andere hätten Beschwerden eingereicht; in einem Fall sei Diskriminierung bereits offiziell festgestellt worden.
Warum Bleiben zählt
„Als Nächstes bringen wir die Fälle vor Gericht. Parallel dazu arbeiten wir an der Öffentlichkeitsarbeit, wenden uns an internationale Organisationen und liefern Beweise, um Sanktionen gegen die Verantwortlichen durchzusetzen.“
Wie können regimekritische Beamte überleben?
„Es ist entscheidend, dass integre Beamte in ihren Positionen bleiben. Wenn sie gehen, werden sie durch gehorsame Parteigänger ersetzt – nicht aufgrund von Qualifikation, sondern Loyalität.“
Als Beispiel nennt Sopromadse eine Mitarbeiterin mit 38 Jahren Erfahrung im Amt für internationale Beziehungen der Stadt, die ihre Unterschrift nicht zurückzog – woraufhin das gesamte Amt abgeschafft wurde. „Das sagt alles über die Prioritäten in der internationalen Arbeit.“
Die Botschaft an andere Ressorts sei klar: Wer widerspricht, wird abgewickelt – ob Gesundheit, Soziales oder Verkehr.
„Ohne uns funktioniert nichts“
Sopromadse erinnert daran, dass die Verwaltung das Rückgrat des Staates ist:
„Kein Befehl Kobachidses existiert, bevor nicht ein Beamter ihn schreibt, stempelt und verschickt. Ohne uns sind Minister, Bürgermeister und Abgeordnete handlungsunfähig.“
Die Strategie sei daher klar: organisieren, illegale Anweisungen verweigern, Souveränität verteidigen.
„Wir haben Einkommen, Karrieren und Zukunft geopfert – aber nicht unsere Würde. Es gibt Linien, die man nicht überschreiten darf. Über Busfarben kann man streiten, über Programme auch – aber nicht über Unabhängigkeit, Souveränität und das Wohl der Bürger.“
Am Ende steht für ihn ein nüchternes Fazit:
„Hätten mehr unterzeichnet, hätte die Regierung die Reorganisation nicht gewagt. Jetzt zählen Diskussion, Einheit und Solidarität.“




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