Ein Rückfall in dunkle Zeiten – der Fall Nino Datashvili
- Goga Machavariani

- 4. Aug.
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Aktualisiert: 4. Aug.
Es beginnt mit einer Auseinandersetzung im Foyer des Stadtgerichts von Tiflis. Am 9. Juni 2025 weigert sich die Aktivistin Nino Datashvili, einem absurden Platzverweis der Justizwache Folge zu leisten. Der Vorwurf: Sie habe sich dort aufgehalten, wo das Stehen – angeblich – verboten sei. Aus der verbalen Auseinandersetzung entwickelt sich ein Handgemenge, später folgt die offizielle Anklage: Angriff auf einen Beamten im Dienst. Ein Vorfall, der in einem funktionierenden Rechtsstaat kaum über eine Ordnungswidrigkeit hinausginge – in Georgien jedoch wird daraus eine kafkaeske Farce mit jahrelanger Haftdrohung.
Doch die georgische Staatsanwaltschaft setzt noch einen drauf: Sie macht Datashvilis Gesundheit zum Thema. Genauer: Ihre Wirbelsäule – und deren angeblich psychische Nebenwirkungen. Ein von der NGO „Partnerschaft für Menschenrechte“ dokumentierter Gerichtsbeschluss erlaubt ihre Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik. Die georgische Justiz – oder das, was davon übrig ist – greift zu Methoden, wie man sie aus sowjetischen Zeiten kennt: Repression im weißen Kittel.
Von Nino zu Nasi – Eine gefährliche Tradition lebt weiter
Die Methoden mögen subtiler geworden sein – die Logik bleibt dieselbe. Wer unbequem ist, wird nicht widerlegt, sondern aussortiert. Die erschütternde Parallele zum Fall der Journalistin Nasi Shamanauri macht das besonders deutlich. Auch sie war eine Frau mit Rückgrat. Auch sie suchte die Wahrheit – und landete in der Psychiatrie.
Geboren 1940 in Dusheti, war Shamanauri Journalistin, Französischlehrerin und gläubige Christin. In der Sowjetzeit schrieb sie über das Elend der Landbevölkerung – ein mutiger Akt unter brutaler Zensur. 1982 versuchte sie auf einer öffentlichen Veranstaltung, Missstände im Rayon Dusheti anzuprangern. Man ließ sie nicht zu Wort kommen. Sie rief ihre Kritik dennoch laut heraus – und wurde verhaftet, gemeinsam mit ihrer Mutter in die Psychiatrie eingeliefert.
Was folgte, war Folter im medizinischen Gewand. Ihre Tagebücher – später unter dem Titel „Meine Wahrheit, mein Feind“ veröffentlicht – beschreiben Zwangsbehandlungen, Schläge, Medikamentenmissbrauch, Demütigungen und Isolation. Sie widerrief nicht. Doch sie überlebte nicht. Am 12. Januar 1983 wurde sie bewusstlos in ein Krankenhaus eingeliefert – acht Tage später war sie tot. Die Sowjetpropaganda erklärte sie für geisteskrank. Heute wissen wir: Sie war nicht krank – sie war mutig.
Und im Georgien des Jahres 2025 ist ihre Geschichte keine ferne Erinnerung – sondern eine brennende Warnung. Dasselbe System. Andere Sprache.
Psychiatrie als politisches Werkzeug
Datashvilis Anwältin Tamari Gabodze bringt es auf den Punkt: Es geht nicht um Medizin, sondern um politische Ausschaltung. Ziel sei die Stigmatisierung und Entmündigung einer Aktivistin. Dass diese Einschätzung berechtigt ist, zeigt ein Blick auf die georgische Gerichtspraxis: Keine der Beschwerden der Verteidigung wurde je ernsthaft geprüft.
Und das ist kein Einzelfall: Es erinnert an den psychiatrischen Gutachter David Magradze, der bereits in den 2000er-Jahren durch fragwürdige Diagnosen auffiel. 2009 stellte er bei einem 20-Jährigen „organisch bedingte wahnhafte Störungen“ fest – aufgrund eines Kratzers am Hals und „nervösem Blickkontakt“. Der junge Mann wurde für drei Jahre in die berüchtigte Klinik in Khoni zwangseingewiesen.
Heute, 16 Jahre später, wird genau diese Einrichtung gegen eine Aktivistin eingesetzt, deren einziges „Vergehen“ es war, öffentlich Widerspruch zu leisten.
Diagnose als Disziplinierung
Wenn man der medizinischen Argumentation im Fall Datashvili folgt, reicht künftig jedes emotionale Verhalten – Reizbarkeit, Wut, Trauer – aus, um als Sicherheitsrisiko zu gelten. Es ist eine gefährliche Verkehrung ärztlicher Ethik: Was früher Hilfe bedeutete, wird heute zur Waffe staatlicher Kontrolle. Nicht wegen Psychosen – sondern wegen Ungehorsam.
Zur Begründung der Zwangseinweisung stützt sich die Justiz auf einen medizinischen Eintrag von 2019, der von „emotionaler Labilität“ infolge von Wirbelsäulenproblemen spricht. Ein psychiatrischer Befund ist das nicht. Doch in Georgien genügt so etwas offenbar – ein Instrumentarium, das einst die Sowjetunion perfektionierte und das nun ein beunruhigendes Comeback feiert.
Schweigen schützt vor Krankheit?
Die Botschaft an die Zivilgesellschaft ist klar: Wer redet, wird krankgeschrieben. Wer protestiert, wird pathologisiert. Wer unbequem ist, verliert seine Bürgerrechte – nicht auf dem Papier, sondern im Klinikflur. Die Fälle von Shamanauri, Meunargia und nun Datashvili zeigen, wie tief der Missbrauch psychiatrischer Institutionen in der autoritären Repressionslogik verwurzelt ist.
Und Georgien – das sich als europäisch inszeniert – greift dabei auf sowjetische Werkzeuge zurück.
Stigmatisierung als System
Wer glaubt, Datashvilis Fall sei ein Ausrutscher, verkennt das Muster. Die gezielte Nutzung medizinischer Diagnosen zur Ausschaltung von Gegner:innen ist kein Einzelfall, sondern Methode. Wenn der Gerichtssaal zu heikel wird, verlegt man die Verhandlung ins Sanatorium – ohne Kameras, ohne Öffentlichkeit, ohne Widerworte.
Und vor allem: ohne Rechtsstaat.
Die Dämonisierung in Zeitlupe
Datashvili war unbequem. Jung, konsequent, systemkritisch – und nicht vereinnahmbar. Sie hatte keine Parteibindung, keine PR-Strateg:innen, keine Angst vor Öffentlichkeit. Ihr Aktivismus war direkt, laut, kompromisslos. Und genau das machte sie gefährlich für ein Regime, das seine autoritäre Transformation lieber hinter PR-Floskeln versteckt.
Die Strategie ist bekannt: Erst kriminalisieren, dann psychiatrisch abstempeln, schließlich isolieren. Danach ist sie „politisch erledigt“ – nicht wegen ihrer Aussagen, sondern wegen ihres angeblichen Zustands.
fließend – und gefährlich.
Europa muss mehr tun
Während die baltischen Staaten – insbesondere Litauen, Lettland und Estland – gezielt mit Einreiseverboten auf die Repressionen reagieren, zeigen sich andere EU-Staaten bislang auffällig zurückhaltend.
Gerade Deutschland und Frankreich sollten handeln – nicht mit General-Sanktionen gegen Georgien, sondern mit gezielten Konsequenzen gegen die Verantwortlichen. Richter, Gutachter, Beamte, die an politisch motivierter Verfolgung beteiligt sind, dürfen nicht weiter geduldet werden.
Wer Repression sanktionsfrei lässt, macht sie möglich.




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