Das Dilemma des kollektiven Willens
- Goga Machavariani

- vor 2 Tagen
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Seit mehr als einem Jahr findet vor dem georgischen Parlament in Tiflis ein nahezu kontinuierlicher Protest statt. Beginnend im Frühjahr 2024 und mit wechselnder Intensität bis in die Gegenwart hinein, versammeln sich Bürgerinnen und Bürger regelmäßig vor dem Parlamentsgebäude, um gegen den politischen Kurs der Regierung, gegen demokratische Rückschritte und insbesondere gegen den wachsenden russischen Einfluss auf staatliche Institutionen zu demonstrieren.
Diese Proteste zählen zu den längsten anhaltenden politischen Mobilisierungen in der jüngeren Geschichte Georgiens. Trotz ihrer Dauer, ihrer symbolischen Stärke und wiederkehrender Mobilisierungsspitzen – etwa im Zusammenhang mit Gesetzesinitiativen zur sogenannten „ausländischen Einflussnahme“ oder im Kontext der Parlamentswahlen – blieb der entscheidende politische Durchbruch bislang aus.
Gerade diese Diskrepanz zwischen Ausdauer und Wirkung wirft eine grundlegende Frage auf: Warum führt ein Protest, der sich über mehr als ein Jahr erstreckt und sichtbar im Zentrum der politischen Macht stattfindet, nicht zu strukturellen Veränderungen? Die Antwort darauf liegt möglicherweise weniger in äußeren Faktoren wie internationaler Unterstützung oder formalen Machtverhältnissen, sondern tiefer – in der inneren Struktur des Protests selbst.

Was ist das Problem des Protests?
Auf diese Frage hört man zahlreiche Antworten. Manche verweisen auf die schwache Unterstützung des Westens, andere auf die angeblich unzureichende Demonstration des politischen Willens durch die georgische Gesellschaft. Doch viele von uns, die seit langer Zeit aktiv am Protest teilnehmen, stellen sich nur selten eine grundlegendere Frage: Ist dieser Protest tatsächlich zu einem Massenprotest geworden – also zu einem Protest der Masse?
Der Begriff der „Masse“ wird auf den ersten Blick mit einer großen Anzahl von Menschen gleichgesetzt. Doch das greift zu kurz. Die Masse ist keine quantitative, sondern eine psychologische Kategorie. Deshalb muss genau hier die Analyse des Protestproblems ansetzen.
Möglicherweise erscheint diese Fragestellung zunächst als ein falsches oder zumindest nachrangiges Dilemma. Stattdessen werden häufig andere, vermeintlich drängendere Fragen gestellt: Warum erzielt der georgische Protest seit so langer Zeit keine greifbaren Ergebnisse? Wo liegt sein Kernproblem?
Einige sehen die Ursache in der zu geringen Zahl der Teilnehmenden, andere machen erneut den Westen verantwortlich. Wieder andere sprechen vom Fehlen einer Führungspersönlichkeit oder diskutieren darüber, welche Art von Leader benötigt werde. Ein „Natsi“? Ein ehemaliger „Natsi“? Ein früherer „Kotsi“? Oder jemand ganz anderes? Zviad Gamsachurdia? David der Erbauer?
Begriffsklärung:In Georgien werden im politischen Alltag häufig die Abkürzungen „Natsi“ und „Kotsi“ verwendet. „Natsi“ bezeichnet Anhänger oder ehemalige Anhänger der Partei United National Movement von Mikheil Saakashvili, während „Kotsi“ eine umgangssprachliche Bezeichnung für Unterstützer der regierenden Partei Georgian Dream (Kartuli Otsneba – Georgischer Traum) ist. Beide Begriffe werden informell und meist abwertend gebraucht.
Auch das ist eines der zentralen Dilemmata unserer Gesellschaft. Im Folgenden möchte ich mich daher auf zwei grundlegende Probleme konzentrieren und dabei meine eigene Perspektive darlegen.
Die Masse
In diesem Zusammenhang ist ein Rückgriff auf Gustave Le Bons Werk Psychologie der Massen unverzichtbar. Le Bon beschreibt dort Wesen und Funktionsweise der Masse präzise und systematisch.
Für Le Bon ist eine „Masse“ nicht einfach irgendeine Ansammlung von Menschen. Eine Masse entsteht erst dann, wenn Individuen psychologisch miteinander verschmelzen. Dies kann auf der Straße, bei Demonstrationen, in religiösen Ritualen, im Krieg oder sogar beim Lesen geschehen – immer dann, wenn sich der Einzelne als Teil einer „großen Idee“ empfindet. In diesem Moment handelt der Mensch nicht mehr als autonomes Subjekt, sondern als Zelle eines kollektiven psychischen Organismus.
Ein zentrales Merkmal der Masse ist die Absenkung des individuellen Intellekts bei gleichzeitiger Steigerung der Emotionen. Ein Individuum mag für sich genommen hochintelligent sein, doch in der Masse tritt das rationale Denken zurück. Die kollektive Emotion überlagert das individuelle Urteilsvermögen.
Le Bon benennt mehrere Merkmale der Masse. Eines der wichtigsten ist die psychologische Verschmelzung – jener Zustand, in dem der Einzelne sich als Teil einer übergeordneten Idee begreift.
Die „große Idee“ und die georgische Realität
Die heutige „große Idee“ des georgischen Protests ist das Ende der russischen Herrschaftsform und die Rückkehr Georgiens auf den europäischen Entwicklungspfad. In diesem Punkt gibt es vergleichsweise wenig Dissens. Bewusst oder unbewusst unterstützt ein Großteil der Bevölkerung die europäische Integration. Meiner Ansicht nach liegt das daran, dass die georgische Gesellschaft Wohlstand anstrebt – und selbst jenseits aller politischen und ideologischen Fragen speist sich der Wunsch nach westlicher Integration genau aus diesem Bedürfnis.
Die entscheidende Frage lautet jedoch: Ist unsere Gesellschaft bereit, den eigenen Individualismus zugunsten einer psychologischen Vereinigung um eine gemeinsame Idee aufzugeben? Genau hier treten gravierende Probleme auf. Ins Spiel kommen der altbekannte „Kotsi–Natsi“-Antagonismus sowie weitere Spaltungslinien – zwischen Gebildeten und Ungebildeten, zwischen Rechten und Linken und darüber hinaus.
Bekannt ist zudem, dass russische Propaganda gezielt darauf abzielt, diese Fragmentierung aufrechtzuerhalten, um die Herausbildung einer echten Masse zu verhindern. Das sogenannte „Natsi-Phänomen“ und das Bild des kollektiven „Nationalen“ blockieren die psychologische Verschmelzung.
Unabhängig von der Bewertung zeigen die letzten Wahlen deutlich, dass die Nationale Bewegung und ehemalige „Natsis“ weiterhin über eine relevante Wählerbasis verfügen. Mehrere Parteien haben versucht, dieses politische Feld zu besetzen – bislang ohne Erfolg.
Wenn wir wissen, dass ein signifikanter Teil der Gesellschaft diese politische Kraft unterstützt, warum versuchen wir dann, das zentrale Problem der psychologischen Vereinigung ausgerechnet den „Natsis“ zu opfern? Zumal unser politischer Gegner diese Spaltung gezielt befeuert und damit die Entstehung eines gemeinsamen gesellschaftlichen Syntheseprozesses verhindert.
Vereinfacht lässt sich das Dilemma so formulieren: Bevorzugen wir den Hass auf die „Natsis“, der es uns erlaubt, die eigene moralische Reinheit zu betonen, oder entscheiden wir uns für das Zusammenfügen des zentralen Puzzles, das aus einer protestierenden Gesellschaft eine Masse macht? Wir müssen mehr sein als eine lose Ansammlung von Individuen. Wir müssen eine Masse werden. Dafür ist die Akzeptanz dieser Voraussetzung unerlässlich.
Wird die Realität aus dieser Perspektive betrachtet, lassen sich viele Probleme leichter überwinden – auch die Neutralisierung der Rolle der „Nat
sis“ als politisches Instrument Russlands. Die „Natsis“ selbst stellen heute kein zentrales Problem dar. Das eigentliche Problem liegt darin, dass Russland ihr Image seit Jahren als politisches – wenn man so will: als „chemisches“ – Kampfmittel einsetzt, das die georgische Gesellschaft kontinuierlich und intensiv vergiftet.
Der Leader
Das zweite zentrale Dilemma des georgischen Protests ist die Frage der Führung. Immer wieder wird betont, es brauche einen Leader, der das Volk zum Sieg führt. Doch wie sollte eine solche Führungspersönlichkeit beschaffen sein?
Viele würden sagen: gebildet, moralisch integer, dem eigenen Land zutiefst verpflichtet und fachlich kompetent. Doch eine Masse benötigt solche Leader nur bedingt. Nach Gustave Le Bon ist ein Leader nicht primär ein rationaler Politiker oder Intellektueller. Ein Leader ist jemand, der absolut von seiner Idee überzeugt ist, keinen Zweifel zeigt, keine Diskussion führt und dieselbe Botschaft unermüdlich wiederholt.
Die Macht des Leaders entspringt nicht seinem Intellekt, sondern seinem Glauben und seiner Willensstärke. In ihm erkennt die Masse ihren eigenen kollektiven Wunsch.
Glaube und Willensstärke
Wenn die Stärke des Leaders auf Glauben und Entschlossenheit beruht, stellt sich eine unbequeme Frage: Glauben wirklich alle Politiker daran, dass in Georgien ein russisches Regime etabliert ist? Ausnahmslos alle? Offensichtlich nicht.
Es gibt jedoch Politiker, die diesen Glauben ernst nehmen und dafür sogar Haftstrafen in Kauf genommen haben – Elene Khoshtaria, Zurab „Girchi“ Japaridze, Nika Gvaramia, Nika Melia. Meiner Ansicht nach haben sie dieses Puzzle früher erkannt und der Gesellschaft ein konsistentes Handlungskonzept angeboten. Das verdient Anerkennung.
Meiner Überzeugung nach liegt das Problem nicht beim Leader – es liegt bei uns. Ein Teil der Führung erfüllt die notwendigen Kriterien, doch die Masse ist bislang nicht entstanden. Wir sind noch immer eine Ansammlung von Individuen: fragmentiert, zersplittert und jener Kraft beraubt, die nur eine Masse entfalten kann. Solange wir Individuen bleiben und uns nicht zur Masse formieren, werden wir im Leader auch nicht unseren kollektiven Willen erkennen können.





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