Wenn die Geschichte sich wiederholt: Justiz, Propaganda und öffentlicher Rundfunk in Georgien
- T. Kartliani
- 11. Juli
- 20 Min. Lesezeit
Geschichte mag sich nicht exakt wiederholen, aber sie reimt sich bekanntlich oft. In Georgien spielt sich derzeit ein Schauspiel ab, das beunruhigende Parallelen zu einigen der dunkelsten Kapitel Europas aufweist – eine Justiz, die offensichtliches Unrecht sanktioniert, Medien, die Propaganda über die Wahrheit stellen, und eine Öffentlichkeit, die um ihre Stimme kämpft. Der Fall des 19-jährigen Studenten Saba Jikia ist zum Symbol dieser Entwicklung geworden. Jikia wurde im Juli 2025 von der Tbilisser Stadtgericht zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt – wegen eines angeblichen Tritts gegen einen Polizisten bei Protesten, obwohl der angeblich Geschädigte selbst aussagte, keine Verletzungen erlitten zu haben. Noch brisanter: Regierungsnahe Medien behaupteten kurzerhand, Jikia habe einen Polizisten mit einem Messer angegriffen, obwohl im gesamten Prozess kein Messer je erwähnt wurde.
Während regimetreue Kanäle die Fakten verdrehen, herrscht auf dem offiziell öffentlich-rechtlichen Rundfunk Georgiens dröhnendes Schweigen. Ausgerechnet der aus Steuergeldern finanzierte Sender, der per Gesetz eigentlich die Bürger unabhängig und objektiv informieren soll, hat es versäumt, diese offensichtliche Desinformationskampagne richtigzustellen oder den Familien der politischen Gefangenen eine Plattform zu geben. Dieses Versagen hat empörte Proteste ausgelöst: Vor dem Gebäude des georgischen Public Broadcaster versammelten sich Demonstranten, um genau jene Unabhängigkeit einzufordern, die ein öffentlich-rechtlicher Sender haben muss. Ihre Forderung: Gebt der Wahrheit eine Stimme, bevor es zu spät ist.
Mit bitterem Sarkasmus könnte man fragen: Ist das georgische Staatsfernsehen mittlerweile das, was einst der Volksempfänger für Göbbels’ Propagandaministerium war? Und betreibt die georgische Justiz eine „Rechtspflege“, die eher an Roland Freislers Volksgerichtshof erinnert als an ein modernes europäisches Gericht? Dieser Bericht beleuchtet – mit einem Augenzwinkern und doch auf Fakten gestützt – die erstaunlichen Analogien zwischen den Vorgängen im heutigen Georgien und historischen Lehren aus der Nazi-Zeit, insbesondere was die Rolle von Richtern und Medien in Zeiten des Unrechts betrifft.
Justiz im Dienst des Unrechts: Lektionen aus Nürnberg
In autoritären Systemen wird das Gericht zum Schwert der Herrschenden – oder wie im Fall der NS-Zeit sprichwörtlich zum Dolch unter der Robe. Die Verurteilung von Saba Jikia wirkt in ihrer Härte und Absurdität wie ein ferner, aber unheilvoller Widerhall der NS-Justiz. Damals, in den 1940er Jahren, erließen Nazi-Juristen ganze Kaskaden von Terrorgesetzen, um Regimegegner und unerwünschte Personen „legal“ auszuschalten. Verordnungen wie die berüchtigte „Volksschädlingsverordnung“ von 1939 oder der Nacht-und-Nebel-Erlass dienten als Vorwand, unliebsame Menschen – ob politische Gegner, Juden oder andere Minderheiten – mit dem Anschein von Legalität zu verfolgen. Sondergerichte verhängten auf dieser Grundlage zahllose Todesurteile und machten die Justiz zu einem willigen Vollstrecker des Unrechtsstaates.
Heute fallen in Georgien zwar keine Todesurteile gegen Regierungsgegner, doch das Prinzip ist erschreckend ähnlich: Strafgesetze werden missbraucht, um Exemplen zu statuieren und Protest ersticken zu lassen. Saba Jikias angebliches Verbrechen – ein Tritt gegen einen gepanzerten Polizeibeamten inmitten einer chaotischen Protestsituation – wurde behandelt, als hätte er ein Kapitalverbrechen begangen. Vier Jahre und sechs Monate Haft für einen Teenager, der niemandem ernsthaften Schaden zufügte, muten absolut unverhältnismäßig an. Zum Vergleich: In Deutschland würde eine solche Tat – so sie denn überhaupt beweisbar wäre – wohl als einfache Körperverletzung oder Widerstand gewertet und kaum eine derartige Gefängnisstrafe nach sich ziehen. Die georgische Richterin Tamar Mchedlishvili jedoch setzte offenkundig ein Exempel im Sinne der Machthaber.
Dabei ist Richterin Mchedlishvili kein unbeschriebenes Blatt. Ihr Name findet sich auf der Sanktionsliste gleich mehrerer westlicher Staaten, die jene Personen mit Einreiseverbot belegten, die in Georgien „repressive Maßnahmen im Namen der Regierungspartei Georgian Dream durchsetzen“. Im März 2025 belegte beispielsweise Estland insgesamt 16 georgische Richter – darunter Tamar Mchedlishvili – mit Sanktionen, wegen ihrer Rolle bei der Verfolgung von Protestteilnehmern und Oppositionsvertretern. Die baltischen Staaten wollten damit ein Zeichen setzen, dass „Gewalt gegen Protestierende, Journalisten und Oppositionelle inakzeptabel und kriminell“ ist. Man könnte also sagen: Während Frau Mchedlishvili vielleicht glaubte, sie stünde mit ihrem harten Urteil auf der Seite von Gesetz und Ordnung, steht sie aus Sicht demokratischer Staaten längst am Pranger – ganz so, wie einst die willigen Helfer der NS-Justiz nach 1945 am Pranger der Weltgeschichte standen.
Eine bittere historische Ironie drängt sich auf: In Nürnberg 1947 mussten sich deutsche Juristen dafür verantworten, dass sie „nur Gesetze vollzogen“ hatten, die zu ihrer Zeit gültig waren, aber offenkundig gegen Menschlichkeit und Gerechtigkeit verstießen. Ihre Verteidigung – man habe nichts Unrechtes getan, da man ja dem geltenden Recht folgte – wurde vom Gericht verächtlich verworfen. In der Urteilsbegründung des Nürnberger Juristenprozesses hieß es sinngemäß, dass allgemeingültige Prinzipien des Rechts stets über positivem Unrecht stehen und die zivilisierte Welt ein Urteil fällen müsse über ein „drakonisches, korruptes und verderbtes Rechtssystem“ wie das der Nationalsozialisten. Mit anderen Worten: „Befehle“ oder „Gesetze“ sind keine Entschuldigung, wenn sie offenkundig gegen grundlegende Rechtsprinzipien verstoßen. Die Nazi-Richter konnten sich nicht damit herausreden, sie hätten ja nur die damals geltenden Verordnungen – wie z.B. die genannten Terrorgesetze – angewendet. Das Tribunal erkannte klar: Wer Unrecht im Gewand des Rechts exekutiert, macht sich schuldig.
Man möchte den georgischen Richtern – und auch den Staatsanwälten – zurufen: „Habt ihr aus der Geschichte nichts gelernt?“ Wenn ein Justizsystem dazu benutzt wird, unbescholtene junge Menschen als “abschreckende Beispiel“ wegzusperren, dann begeht auch die Robenträger-Elite Verrat an ihrem eigentlichen Auftrag. Die Georgische Verfassung (ähnlich wie alle modernen Verfassungen) stellt die Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit an oberste Stelle. In dem Moment, wo Richter beginnen, auf Geheiß der Mächtigen drakonische Strafen gegen politische Gegner zu verhängen, verwandelt sich die Justiz vom Schutzschild der Bürger in ein Schwert der Unterdrückung.
Sarkasmus mag hier erlaubt sein: Vielleicht hat man in Tiflis Roland Freislers Handbuch für Schauprozesse wiederentdeckt? Freisler, berüchtigter Präsident des NS-„Volksgerichtshofs“, beschimpfte die Angeklagten – zumeist Widerstandskämpfer – in Schauprozessen und verhängte Todesurteile im Akkord. In Georgien erlebten Prozessbeobachter zwar kein vergleichbares Spektakel, aber ähnlich zweifelhafte Praktiken: So berichtet Jikias Anwalt Guja Avsajanishvili, dass die Richterin das Urteil offenbar schon vorgeschrieben hatte, bevor die Schlussplädoyers überhaupt beendet waren – ein Indiz dafür, dass das Urteil politisch vorbestimmt war. Damals wie heute wird also das Urteil zuerst festgelegt und die Verhandlung zur Farce. Vielleicht sind wir nur froh, dass heutige Unrechtsurteile „nur“ Gefängnis bedeuten und nicht den Strang – ein schwacher Trost angesichts zerstörter Jugendjahre unschuldiger Menschen.
All diese Parallelen sollen keineswegs behaupten, die Lage in Georgien entspräche eins zu eins der Hitler-Diktatur – das wäre eine unzulässige Übertreibung. Doch die Warnsignale sind nicht zu übersehen. Selbst die Europäische Union beobachtet die Entwicklung mit Sorge. Kaja Kallas, die Ministerpräsidentin Estlands, warnte jüngst, das georgische „Justizsystem scheint Teil dieser Repressionsmaschinerie zu sein“, und die EU diskutiere gar darüber, ob man jene Richter sanktionieren solle, „die diese Dinge tun“. Wenn höchstrangige EU-Politiker offen von der georgischen Justiz als Unterdrückungsinstrument sprechen, dann hat das Gewicht – es ist ein diplomatischer Warnschuss. In Deutschland würde man sagen: Spätestens jetzt müsste bei den Verantwortlichen in Tiflis die Alarmglocke schrillen. Denn die „zivilisierte Welt“ – um die Nürnberger Richter zu bemühen – schaut zu. Und die Geschichte hat ein langes Gedächtnis für diejenigen, die sich auf die falsche Seite stellen. Genau das hat Saba Jikia in seinem letzten Wort mit beeindruckender Klarheit erkannt: Er werde seinen Enkeln einst mit Stolz erzählen, dass er auf der richtigen Seite der Geschichte stand – ein Seitenhieb darauf, dass die Richterin und ihre Auftraggeber womöglich auf der falschen Seite stehen.
Der schweigende Rundfunk: Öffentlich-rechtlich oder Regierungssprachrohr?

Noch deutlicher treten die Parallelen zur finsteren Vergangenheit zutage, wenn man den Umgang der Medien – insbesondere des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – betrachtet. In einer Demokratie hat ein öffentlich-rechtlicher Sender die wichtige Aufgabe, ausgewogen, unabhängig und im Interesse der Gesellschaft zu berichten. Er wird finanziert vom Volk und soll dem Volk gehören, nicht einer Partei. In Deutschland sind ARD und ZDF per Staatsvertrag der parteipolitischen Neutralität verpflichtet; in Georgien gibt es ein Gesetz über den Public Broadcaster mit ähnlichen Zielen. Tatsächlich schrieb das georgische Gesetz bis vor Kurzem sogar eine sehr handfeste Garantievorschrift vor: Der Public Broadcaster (GPB) sollte jährlich mindestens 0,14% des Bruttoinlandsprodukts an Budget erhalten. Zum Vergleich: 2021 waren das 69,6 Mio. Lari, bis 2024 stieg diese Summe dank Wirtschaftswachstum auf 110,3 Mio. Lari (rund 38 Mio. Euro). Eine hübsche Summe – aufgebracht von den georgischen Steuerzahlern, mit dem klaren gesellschaftlichen Auftrag, dafür auch entsprechende gemeinwohlorientierte Inhalte zu liefern.
Doch was macht der Sender mit diesem Geld? Derzeit offenkundig: sehr wenig von dem, was er eigentlich tun sollte. Wichtige Prozesse politischer Gefangener, groteske Fehlurteile, offizielle Desinformation – all das findet im Programm des öffentlichen Rundfunks kaum oder gar nicht statt. Es ist, als hätte die Tagesschau beschlossen, keinen einzigen Beitrag über einen politischen Skandal zu senden, weil die Regierung das nicht möchte. Genau das aber werfen die georgischen Demonstranten ihrem Public Broadcaster vor: ‚Macht euren Job! Seid unabhängig, berichtet objektiv!‘ So schilderten es Aktivisten bei einer Protestkundgebung am 10. Juli vor dem Sitz des Senders. Davit Gunaschwili, einer der Organisatoren, formulierte es drastisch: Der georgische „Public Broadcaster ist zur Waffe der russischen Hybrid-Okkupation geworden“, die Journalisten dort seien „Werkzeuge der Propaganda“, welche die Bevölkerung gezielt desinformieren und wichtige Missstände verschweigen – eine “verräterische Tätigkeit“ nannte er das öffentlich (eine Wortwahl, die einem im Halse stecken bleibt, die aber den Frust der Bürger treffend wiedergibt). Schließlich, so Gunaschwili, finanziert das Volk diesen Sender, doch der Sender kehrt dem Volk im entscheidenden Moment den Rücken und verschließt die Augen vor der „unvorstellbaren Ungerechtigkeit, die in Georgien wütet“. Man zahle als Bürger also zwangsweise für eine Informationsquelle, die einen dann verhungern lässt – informationelle Unterernährung sozusagen.
Ein besonders empörender Aspekt ist die Rolle des Rundfunks bei Gerichtsprozessen. Nachdem die Regierungspartei Georgian Dream jüngst per Gesetz allen unabhängigen Medien das Filmen und Aufzeichnen von Gerichtsverhandlungen verboten hat, liegt die exklusive Erlaubnis zur Aufzeichnung nur noch beim Public Broadcaster. Nach alter Rechtslage durfte GPB in Gerichtssälen filmen und war verpflichtet, das Material mit anderen Medien zu teilen – tat er es nicht, durften andere einspringen. Die neue Gesetzesänderung hat all das abgeschafft. Das heißt: Wenn der öffentliche Sender nicht filmt, gibt es schlichtweg kein Bild- und Tonmaterial für die Öffentlichkeit. Und genau dieses Szenario trat beim Prozess von Saba Jikia ein. Die Urteilsverkündung am 10. Juli fand praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, weil ja weder private Fernsehsender noch unabhängige Journalisten im Saal Kamera oder Mikrofon benutzen durften. Die einzige Kamera, die gedurft hätte – die des GPB – blieb kalt.
Die Regierung begründete die Einschränkung zynischerweise damit, man wolle “geordnete Verfahren” sicherstellen und “Zirkus im Gerichtssaal” vermeiden. Orwell hätte seine helle Freude an dieser Verdrehung: Man schränkt Transparenz ein, um Transparenz zu gewährleisten. Das Ergebnis ist jedenfalls eindeutig: Die „offenen Verfahren“ finden nun im Dunkeln statt, es sei denn, es dringt über inoffizielle Kanäle etwas heraus. So war es auch bei Jikia: Sein handgeschriebenes Schlusswort wurde – da niemand filmen durfte – später von Unterstützern fotografiert und ins Netz gestellt. Darin erklärte der 19-Jährige mutig, er habe zwar Angst vor Niederlagen, „weil ich nicht will, dass künftige Generationen uns dafür verurteilen“, aber er werde „bis zum Ende kämpfen“ und „nicht aufgeben“. Eindrücke, die ein öffentlich-rechtlicher Sender in einer funktionierenden Demokratie selbstredend ausgestrahlt hätte, um allen Bürgern die Bedeutung und Tragweite dieser Vorgänge vor Augen zu führen. In Georgien hingegen schweigt der Sender – und überlässt das Feld den Verzerrungen der Propagandamedien.
Mit brennender Sarkasmus könnte man formulieren: Der georgische Rundfunk hat die Neutralität so wörtlich genommen, dass er gleich ganz neutralisiert wurde – er sendet nichts Relevantes mehr, also kann man ihm auch keine Parteinahme vorwerfen. Eine schweigende Presse ist schließlich die perfekteste Form der Gleichschaltung: kein Widerspruch, kein Ärger – nur betretenes Schweigen im Walde. Leider bedeutet Schweigen im Angesicht von Lügen aber faktisch Zustimmung. Als Imedi TV die Unwahrheit über einen angeblichen Messerangriff verbreitete und selbst auf Social Media eine absurde, offenbar KI-generierte Karikatur kursierte, die Saba Jikia als bewaffneten Gewalttäter darstellte, hätte ein unabhängiger öffentlicher Sender umgehend Faktencheck und Richtigstellung senden müssen. Doch nichts dergleichen geschah. Man kann fast meinen, der georgische Public Broadcaster habe vom alten Goebbels den Lehrsatz verinnerlicht: „Am besten lügt man, indem man gar nichts sagt und die anderen Lügen nicht korrigiert.“
Dieses Versagen hat Konsequenzen: Das Vertrauen der Bevölkerung schwindet. Wenn das Staatsfernsehen – das doch allen Bürgern gehören sollte – zum verlängerten Arm der Regierung verkommt, verspielt es seine Legitimität. Georgische Bürger bezeichnen den Sender bereits spöttisch als „Kartuli Osdinareba“ – Georgischer Traum-TV (in Anspielung auf den Namen der Regierungspartei). Der öffentliche Rundfunk wird also als Staatsfunk wahrgenommen, ähnlich wie einst die Nachrichtenreels der Deutschen Wochenschau im Dritten Reich, die gleichgeschaltet nur Erfolgsmeldungen und Feindpropaganda ausstrahlten. Ein hartes, aber treffendes Urteil sprach Zurab Zezchladze, der Vater eines der politischen Gefangenen, auf der Protestkundgebung: Der Sender diene nicht dem Land, sondern einer Partei und letztlich einem einzigen Mann – Bidzina Iwanischwili (dem Oligarchen und inoffiziellen Strippenzieher der Regierung) – und habe die „schädliche Mission, Weiß als Schwarz und Schwarz als Weiß darzustellen“, um dessen Machenschaften zu vertuschen. „Die Stimme des Volkes zu verbreiten wäre eigentlich seine Aufgabe – stattdessen produziert er selbst Desinformation“, rief der Vater empört in die Menge (freie Übersetzung nach Augenzeugenberichten). Deutlicher kann man die Perversion eines öffentlichen Mediums kaum beschreiben.
Propaganda 2.0: Wenn Fakten unerwünscht sind
Autoritäre Regime haben im Laufe der Geschichte stets versucht, Information zu kontrollieren. Was wir in Georgien beobachten, ist in vielerlei Hinsicht Propaganda im modernen Gewand, die dennoch altbekannten Mustern folgt. Da wird ein Demonstrant, der gegen die Regierung aufbegehrt, kurzerhand zum “gewalttätigen Kriminellen” umgelogen. Es erinnert fatal an die Sprache der Nazis, die Widerständler als „Volksschädlinge“ und „Terroristen“ verleumdeten, um drakonische Strafen zu rechtfertigen. In Berlin 1933 brannte der Reichstag – sofort wurde ein Sündenbock präsentiert (der junge Marinus van der Lubbe) und ein Narrativ geschaffen, das die Machtergreifung legitimieren half. In Tiflis 2023/24 brannte zwar kein Parlament, aber die Regierung Georgian Dream verkündete im November 2024 plötzlich den Stopp des EU-Annäherungsprozesses, was Massenproteste auslöste. Die Protestierenden wurden umgehend als vom Ausland gesteuerte Chaoten dargestellt. Als im Juni 2023 Zehntausende gegen ein „Agentengesetz“ demonstrierten, sprach die Regierung gar von einem versuchten Staatsstreich und russische Narrative unterstellten westliche Drahtzieher.
Nun, da Jugendliche wie Saba Jikia vor Gericht stehen, wird die Dämonisierung auf die Spitze getrieben: Ein regierungstreuer Sender (TV Imedi) fabuliert von einem Messer, das nie existierte, um den Delinquenten gefährlicher erscheinen zu lassen. Ein weiterer Kanal (POST TV) setzt noch eins drauf und illustriert diese Lüge mit einer Anime-Grafik, in der Jikia als Messerstecher stilisiert wird – als lebten wir in einem absurd schlechten Comic. Die Bildunterschrift zynisch: „Gewissensgefangener für die Opposition, gewalttätiger Verbrecher in Wirklichkeit.“ Das ist Propaganda 2.0 in Reinform: Man mische Realität und Fiktion, würze mit Künstlicher Intelligenz, um den Anschein moderner Kreativität zu erwecken, und serviere der Bevölkerung ein Zerrbild, das Emotionen schürt.
Die Technik mag neu sein, doch das Prinzip ist altbekannt. Schon Joseph Goebbels wusste: Emotionalisierung und Feindbilder sind die Schlüssel. Damals wie heute werden Ängste geschürt – vor „gewalttätigen Jugendlichen“, vor „chaotischen Protesten“, vor „vom Ausland gesteuerten Unruhestiftern“. Und was eignet sich besser, als einen Demonstranten mit einem Messer in der Hand zu zeigen, der auf Polizisten losgeht? Die Tatsache, dass es nie passiert ist, stört die Propagandisten nicht im Geringsten. „Am Ende bleibt immer etwas hängen“, lautet ein zynisches Motto der Meinungsmacher. Im Nazi-Deutschland blieben nach Jahre langer Hetze gegen Juden, Kommunisten und andere Feindbilder auch all die Lügen als „gefühlte Wahrheit“ bei vielen hängen – mit verheerenden Folgen.
Heute haben autoritäre Taktiker ein noch perfideres Werkzeug: Soziale Medien und KI-generierte Inhalte, die sich rasend schnell verbreiten. Ein hübsches Anime-Bildchen von Saba Jikia mit Messer mag auf den ersten Blick harmlos wirken – doch gepostet in reichweitenstarken Facebook-Gruppen oder im Fernsehen, erreicht es ein Millionenpublikum und verfestigt ein falsches Narrativ. So verwandelt sich ein unschuldiger Teenager in der öffentlichen Wahrnehmung in einen gemeingefährlichen Verbrecher, bevor er überhaupt eine Chance hatte, gehört zu werden. Und wiederum schweigt der öffentlich-rechtliche Sender dröhnend dazu. Kein Faktencheck, keine Richtigstellung – nichts, was die Giftzähne dieser Lüge zieht. In demokratischen Ländern springen in solchen Fällen oft unabhängige Journalisten oder NGOs ein. Tatsächlich berichteten oppositionelle Medien und Menschenrechtsgruppen in Georgien ausführlich über die Falschmeldung vom „Messerangriff“ und prangerten die infame Diffamierungskampagne an. Doch ihre Reichweite ist begrenzt, zumal viele dieser Kanäle ohnehin unter Druck stehen.
Das macht das Versagen des Public Broadcaster umso gravierender. Man stelle sich vor, in Deutschland würde ein großer Privatsender eine solche Falschmeldung über einen Demonstranten verbreiten – die öffentlich-rechtlichen Sender würden höchstwahrscheinlich in den Nachrichten klarstellen, was wirklich geschehen ist, und damit ihrer Pflicht zur Objektivität nachkommen. Genau das passiert in Georgien nicht. Im Gegenteil: die staatlich dominierten Medien halten offenbar zusammen. „Wir haben gesehen, dass das Fernsehen, das vom Geld der Leute finanziert wird, selbst Desinformationsstücke schafft“, beklagte Vater Z. Zetzchladze (wie oben erwähnt). Damit vergiftet der öffentlich-rechtliche Rundfunk das Land anstatt es zu informieren, sagte er sinngemäß – eine treffende Beschreibung (denn giftig sind Fake News in einer Gesellschaft allemal).
An diesem Punkt ist es angebracht, nochmals ins Geschichtsbuch zu blicken: Nach 1945 stellte sich ganz Deutschland die Frage, wie es sein konnte, dass eine zivilisierte Nation so verblendet und manipuliert werden konnte. Die Gleichschaltung der Medien war einer der Hauptgründe. Radio, Zeitungen, Nachrichtenwochenschauen – alles sprach mit einer Stimme, der Stimme der NSDAP. Kritische Journalisten waren entweder ins Exil getrieben oder mundtot gemacht worden. Im Bewusstsein dieser Erfahrung schuf man in der Bundesrepublik ab 1949 ein System der öffentlich-rechtlichen Medien, das unabhängig von staatlicher Kontrolle sein sollte – finanziert durch Gebühren, organisiert durch pluralistische Gremien. Das georgische System orientierte sich in Teilen an solchen Modellen: der GPB hat einen Aufsichtsrat, nominell pluralistisch besetzt, und war durch die GDP-Kopplung finanziell abgesichert. Doch Konstrukte auf dem Papier helfen nichts, wenn die politische Kultur sie unterwandert. Georgiens Public Broadcaster wurde, wie Kritiker sagen, durch politischen Einfluss zum Zahnrädchen des Regierungsapparats degradiert. Es ist exakt die Entwicklung, vor der die deutschen Alliierten 1945 warnten: Nie wieder dürfe der Staat die volle Kontrolle über den Rundfunk haben – sonst drohe Propaganda statt Pressefreiheit.
Der aktuelle Zustand erinnert an jenen galligen Witz aus Sowjetzeiten: “Wir tun so, als ob wir arbeiten, und die tun so, als ob sie uns bezahlen.” Übertragen auf Georgien: Wir tun so, als ob wir unabhängigen Rundfunk hätten, und der Rundfunk tut so, als ob er das Volk informiert. In Wahrheit aber informiert er im entscheidenden Moment nicht, schon gar nicht unabhängig.
Man darf sich daher nicht wundern, dass die Zivilgesellschaft Alarm schlägt. Es ist kein Zufall, dass die Proteste in Georgien sich neuerdings verstärkt gegen die Medienfront des Regimes richten. Aktionsgruppen rufen gezielt Demonstrationen vor den Sitzen der regimefreundlichen Sender aus, inklusive dem Public Broadcaster. „Das Epizentrum des Protests muss dort sein, wo diese Flut aus Desinformation und Bosheit herabströmt“, sagte Zetzchladze eindringlich und nannte explizit die Büros von Georgian Dream sowie jene Fernsehsender, die die Regierungslinie verbreiten, als Orte, an denen der öffentliche Druck erhöht werden müsse (frei nach seiner Rede, die von Aktivisten aufgezeichnet wurde). Die Menschen haben verstanden, dass ohne wahre Information kein wahrer Wandel möglich ist. Es geht hier also längst nicht mehr „nur“ um einzelne ungerechte Urteile – es geht um den Kampf um die Deutungshoheit, um nichts weniger als die Gedankenfreiheit einer Gesellschaft. Das effektivste Mittel der Unterdrücker ist nicht der Knüppel, sondern die Kontrolle darüber, was die Mehrheit für wahr hält. Und genau diese Kontrolle versuchen engagierte Georgier ihrem Regime zu entreißen.
Die entscheidende Rolle einer unabhängigen Öffentlichkeit
Angesichts dieser Lage ist es wichtig hervorzuheben, warum unabhängige Medien – insbesondere der öffentliche Rundfunk – so zentral für den Ausgang dieses Kampfes sind. In einer gefestigten Demokratie mag die Vorstellung, das Staatsfernsehen könnte komplett einseitig berichten, absurd erscheinen. Doch Georgien ist eine junge, „nicht konsolidierte“ Demokratie, wie Aktivist Gunaschwili es formulierte. Gerade in solchen Ländern ist ein starker, unabhängiger öffentlicher Rundfunk ein Garant dafür, dass es zumindest eine Informationsquelle gibt, die nicht von Oligarchen oder Parteien gelenkt wird. Private Sender können (und in Georgien tun es einige) großartige journalistische Arbeit leisten, aber sie sind immer anfällig für den Druck durch Eigentümer oder politische Einflussnahme.
Ein echter Public Service Broadcaster hingegen hat den Auftrag, allen Stimmen Gehör zu verschaffen, Minderheiten wie Mehrheiten, Opposition wie Regierung, und dabei gemeinwohlorientiert zu agieren. Die Finanzierung über öffentliche Mittel rechtfertigt sich nur dadurch, dass der Nutzen auch öffentlich ist. Oder um es einfach zu sagen: Das Volk zahlt, also muss der Sender dem Volk dienen – nicht den Regierenden. Jede Abweichung von diesem Prinzip ist ein Betrug am Bürger.
In Georgien hat dieser Betrug viele wütend gemacht. Die Forderungen der Protestierenden lesen sich wie das Einmaleins des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, das man eigentlich für selbstverständlich halten sollte: Gebt Sendezeit den Familien der politischen Gefangenen! Berichtet objektiv über die Proteste und Gerichtsprozesse! Korrigiert Lügen, anstatt sie auszusitzen! Die Mütter und Väter der Inhaftierten betonen immer wieder, wie wichtig Öffentlichkeit für sie ist. „Was bedeuten für Sie Öffentlichkeit und Unterstützung der Gesellschaft?“, wurden sie gefragt. „Alles“, könnte man als Quintessenz der Antworten festhalten. Denn nur wenn die breite Gesellschaft erfährt, was mit ihren Söhnen und Töchtern geschieht, gibt es Hoffnung auf Gerechtigkeit. Diktaturen und autoritäre Regime agieren bevorzugt im Dunkeln – die sprichwörtliche „Nacht und Nebel“-Aktion (passenderweise der Name eines Nazi-Erlasses) bedeutet, Menschen verschwinden zu lassen, ohne dass jemand etwas erfährt. Öffentlichkeitsherstellung ist daher der erste Schritt zum Schutz der Opfer und zur Mobilisierung von Widerstand.
Man hat fast den Eindruck, die georgische Regierung und ihre Helfer kennen diese Regel genau: Sie haben nach anfänglichem Zögern alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die mediale Beleuchtung der Prozesse zu dimmen. Die neuen Restriktionen für Journalisten in Gerichten treten genau dann in Kraft, als die Prozesse gegen Protestierende in ihre finale Phase gehen. Gleichzeitig belohnt man die Justiz mit Gehaltserhöhungen – der sprichwörtliche Silberling für die Diener des Systems, könnte man sarkastisch anmerken. Dieser Timing-Zufall dürfte keiner sein: Man erkaufte sich Loyalität und erschwerte es Kritikern, Missstände zu dokumentieren.
Doch die Rechnung scheint nicht ganz aufzugehen. Je lauter das Schweigen des öffentlichen Senders, desto lauter werden die Stimmen auf der Straße. Die Proteste sind zwar (noch) vergleichsweise klein, aber sie tragen eine starke Symbolik. Am Tag von Jikias Urteil führten Aktivisten nach der Kundgebung vor dem Rundfunkgebäude einen Protestmarsch durch die Straßen und sogar durch die U-Bahn an – sie wollten buchstäblich Untergrund und Oberfläche mobilisieren, bevor sie sich dem Dauerprotest vor dem Parlament anschlossen. Diese Aktionen sind halb symbolisch, halb konkret: Einerseits will man der Regierung zeigen, dass man überall präsent ist und nicht aufgibt – “unser Protest wird niemals enden”, riefen sie. Andererseits hofft man natürlich auch auf konkrete Wirkung: Vielleicht ein Einlenken der Senderverantwortlichen, vielleicht Druck von internationalen Partnern, vielleicht ein Ruck in der Bevölkerung.
Ist diese Hoffnung naiv? Die Geschichte lehrt uns: Manchmal ja, manchmal nein. In den 1980er Jahren fragten sich die Menschen in Osteuropa sicher auch, ob ihre kleinen Proteste gegen einen übermächtigen Staatsapparat jemals Wirkung zeigen würden – und 1989 sahen wir die Antwort. Wesentlich dabei war in vielen Fällen die Rolle unabhängiger Informationen: Samisdat-Schriften, westliche Radiosender, Kirchengemeinden – all das trug dazu bei, dass die Wahrheit die Lüge langsam unterwanderte. Heute haben die Menschen das Internet und soziale Medien, was Fluch und Segen zugleich ist. Fluch, weil auch Regierungen diese zur Überwachung und Propaganda nutzen; Segen, weil es schwieriger ist, alle Kanäle der Information zu schließen.
In Georgien zeigt sich dies daran, dass obwohl der Public Broadcaster schweigt, unabhängige Newsportale wie Civil.ge, OC Media, Netgazeti, Publika und andere ausführlich berichten. Wer die Wahrheit wissen will, kann sie finden – aber der durchschnittliche Fernseh-Zuschauer wird sie nicht zufällig aufschnappen, denn im meistgesehenen Kanal bleibt sie ausgespart. Diese Diskrepanz ist gefährlich: Sie teilt die Gesellschaft in informierte und desinformierte Lager. Der Protest will genau diese Kluft überbrücken, indem er Aufmerksamkeit schafft. Jeder Mensch, der auf der Straße oder im U-Bahn-Waggon die Protestierenden sieht, wird neugierig: „Worum geht es da?“ Vielleicht recherchiert er danach selbst oder spricht mit anderen darüber. Insofern erzeugt der Protest Öffentlichkeit jenseits der kontrollierten Bildschirme.
Die Unabhängigkeit des öffentlichen Rundfunks wäre hier der Schlüssel – so betonen es alle Kritiker. Würde GPB seiner gesetzlichen Mission folgen, müsste er sofort beginnen, objektiv über die Prozesse zu berichten, die Opposition und Zivilgesellschaft angemessen zu Wort kommen zu lassen und Desinformation offensiv entgegenzutreten. Das wäre ein Game-Changer in diesem friedlichen Kampf um die Seele der georgischen Demokratie. Es ist der Grund, warum viele sagen: Die Wiedererlangung eines freien öffentlichen Rundfunks ist ein entscheidender Schritt, um diesen Kampf zu gewinnen. Gunaschwili formulierte es so: Wenn wir den Public Broadcaster zurückerobern – sprich, ihn von politischer Einflussnahme befreien – dann können endlich die wirklich schmerzhaften Themen für die Gesellschaft auch über die großen Kanäle diskutiert werden. Dann würde man nicht mehr wegschauen können, wenn Jugendlichen Unrecht geschieht, dann müsste sich auch die Regierung der öffentlichen Debatte stellen.
Noch ist es nicht so weit. Im Gegenteil, derzeit wirkt es, als habe der georgische Public Broadcaster eine vollkommene Realitätsverweigerungshaltung eingenommen. Während draußen vor dem Funkhaus Menschen rufen „Tut endlich eure Pflicht!“, reagiert drinnen – nichts. Ein Versuch der Demonstranten, nach ihrer Kundgebung in das Gebäude zu gelangen und mit den Verantwortlichen zu sprechen, wurde brüsk abgewiesen. Daraufhin improvisierten die Protestierenden ein Straßentheater („Performance“) direkt vor dem Sender. Die Botschaft dieses kleinen Schauspiels: So bewerten wir euren aktuellen Zustand, liebes Staatsfernsehen – und wir lassen euch wissen, dass unser Protest niemals erlöschen wird, bis ihr eure Rolle erfüllt. Mit symbolischen Gesten versuchten sie klarzumachen, dass sie den Kampf um die Medienhoheit als Marathon verstehen, nicht als Sprint.
Die Geschichte schaut zu – auf welcher Seite wirst Du stehen?
Ein unbequemes Resümee drängt sich auf: Georgien steht an einer Weggabelung, was Rechtsstaat und Meinungsfreiheit betrifft. Richter wie Tamar Mchedlishvili haben einen Pfad gewählt, der – in historischen Maßstäben – in die Dunkelheit führt. Journalisten und Intendanten des Public Broadcaster haben (wohl unter Druck, aber letztlich doch eigenverantwortlich) entschieden, ihren Auftrag zu verraten und sich auf die Seite der Mächtigen zu schlagen. Doch noch ist die Zukunft nicht geschrieben.
Die Geschichte ist voller Beispiele, in denen Individuen plötzlich erkannten, dass sie nicht länger Teil des Unrechts sein wollen. Manche Nazi-Richter zweifelten insgeheim, doch zu wenige hatten den Mut aufzubegehren. Nach dem Krieg bereuten nicht wenige ihre Feigheit – da war es freilich zu spät. Heute hätten georgische Richter und Journalisten die Chance, aus der Geschichte zu lernen. Sie könnten sich fragen: Wenn in einigen Jahren oder Jahrzehnten auf diese Zeit zurückgeblickt wird – wo stehe ich dann? Bin ich derjenige, der Unrecht mitgemacht oder weggesehen hat, oder habe ich mich auf die Seite der Gerechtigkeit gestellt, als es darauf ankam?
Saba Jikia und viele seiner Mitstreiter haben diese Entscheidung bereits getroffen. „Wir stehen auf der richtigen Seite der Geschichte“, schrieb er aus dem Gefängnis. Er mag mit 19 Jahren sehr jung sein, aber er hat verstanden, was auf dem Spiel steht. Er fürchtet – wie er sagte – die Niederlage, weil er nicht will, dass künftige Kinder in einer Diktatur aufwachsen und man seiner Generation vorwirft, versagt zu haben. Diese Angst treibt ihn an, trotz aller Widrigkeiten weiterzumachen.
Die Gegenseite hingegen – die Richter, die Polizeioffiziere, die Propagandisten – wähnt sich vielleicht sicher. Noch haben sie die Machtmittel in der Hand. Noch können sie Protestierende wegsperren, Sender zum Schweigen bringen, Lügen in die Welt setzen. Aber sie täuschen sich, wenn sie glauben, dies bleibe ohne Konsequenzen. Schon jetzt sind einige von ihnen mit internationalen Sanktionen belegt; ihr Ansehen außerhalb der eigenen Blase ist ruiniert. Die EU hat die „demokratische Regression“ der Führung in Tiflis scharf verurteilt, und die erhoffte EU-Kandidatur Georgiens steht auf der Kippe, vor allem wegen der Unterdrückung von Medien und Opposition. Das heißt, selbst im politischen Kalkül schadet dieser Kurs letztlich dem Land – und vielleicht irgendwann auch den Karrieren der Beteiligten.
Ein zynischer Spruch lautet: „Wer die Vergangenheit ignoriert, ist gezwungen, sie zu wiederholen.“ Georgiens Machthaber scheinen die Vergangenheit sehr selektiv zu betrachten – sie bedienen sich autoritärer Rezepte und hoffen auf ein anderes Resultat. Doch Autoritarismus endet fast immer in Krise, Isolation oder Aufstand. Die Stimmen des Widerstands verstummen nicht, im Gegenteil. Jeder ungerechte Richterspruch, jede verschleppte Berichterstattung facht ihren Zorn nur weiter an. Es ist paradox: Durch die absolute Verweigerung des Public Broadcaster, den Protest zu zeigen, mussten die Aktivisten kreativ werden und den Protest zu den Menschen bringen – in U-Bahnen, auf öffentlichen Plätzen. Dadurch erreichte ihre Botschaft vielleicht sogar Leute, die sie über den Fernseher nie erreicht hätten. Die Regierung hat also einen Pyrrhussieg errungen: Sie kontrolliert die offizielle Darstellung, hat damit aber die Entschlossenheit der Zivilgesellschaft nur gehärtet.
Die entscheidende Frage lautet nun: Gibt es innerhalb des Systems genügend Menschen mit Gewissen, die das Ruder herumreißen? Werden sich Journalisten finden, die sagen „Jetzt ist Schluss, wir lassen uns nicht länger als Sprachrohr missbrauchen“? Werden Richter den Mut finden, einen politischen Befehl auch mal nicht auszuführen und stattdessen im Zweifel für die Freiheit zu entscheiden? Schwer zu sagen. Autoritäre Systeme funktionieren, bis plötzlich Risse entstehen – manchmal aus unerwarteten Richtungen.
Eines aber ist gewiss: Die Welt schaut hin – und erinnert sich. Es mag heute einigen Akteuren in Georgien opportun erscheinen, auf Seiten der Macht zu stehen und unbequeme Tatsachen auszublenden. Doch die Macht kann wechseln; die öffentliche Meinung kann kippen. Was bleibt, ist am Ende der Nachruf der Geschichte. Und der dürfte für die aktuellen Wegbereiter des Unrechts wenig schmeichelhaft ausfallen.
Zum Schluss sei erlaubt, noch einmal sarkastisch die Parallele zu bemühen: In einer fiktiven zukünftigen „Tiflis Trials“ – angelehnt an Nürnberg – müssen sich Verantwortliche erklären. Ein ehemaliger Nachrichtendirektor stammelt: „Wir haben doch nur gesendet, was man uns sagte…“ Ein ex-Richter rechtfertigt sich: „Das Gesetz sah doch diese Strafen vor…“ Was, glauben Sie, wird ein zukünftiges Tribunal darauf erwidern? Vermutlich etwas in der Art von: „Haben Sie denn kein eigenes Gewissen gehabt? Hätten Sie nicht wissen müssen, dass Sie Unrecht unterstützen?“ – Die Nazi-Juristen bekamen diese Fragen gestellt, und ihre Antworten überzeugten niemanden.
Noch also gibt es Zeit, das Blatt zu wenden. Die georgische Gesellschaft steht vor einer Zerreißprobe, aber auch vor einer Chance. Wenn es gelingt, den öffentlichen Rundfunk wieder unabhängig zu machen und die Justiz aus den Klauen politischer Einflussnahme zu befreien, dann wäre das einer der wichtigsten Schritte zurück auf den demokratischen Weg. Es ist kein Zufall, dass die Protestierenden genau dies fordern – denn sie haben die Lehren der Geschichte verstanden. Sie wissen: Eine freie Presse und eine unabhängige Justiz sind die Grundpfeiler, die eine Demokratie immun gegen Tyrannei machen.
Bleibt zu hoffen, dass diejenigen, die heute auf der falschen Seite stehen, ebenfalls einen Blick in die Geschichtsbücher werfen – und erkennen, dass dort kein Ruhm und keine Ehre auf sie warten, sondern bestenfalls Schande. Es wäre im Interesse aller Georgier, wenn sich das Ruder noch herumreißen ließe, bevor der Abgrund erreicht ist. Denn eines hat uns die Geschichte auch gelehrt: Je tiefer ein Land in Propaganda und Unrechtsjustiz versinkt, desto härter und schmerzhafter wird später der Aufprall der Realität. Georgien kann diesen Fall noch verhindern. Die Stimmen der Vernunft und der Freiheit sind da – man muss sie nur erklingen lassen, laut und unüberhörbar.
Die Welt – und die Geschichte – schauen zu. Entscheiden wir weise, auf welcher Seite wir stehen.
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