Informationskrieg und geopolitische Verschiebungen in Georgien
- Tamta Chkhaidze
- 6. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Informationskrieg und geopolitische Verschiebungen in Georgien
„Staatenlose“, „ausländische Agenten“, „Radikale“, „die globale Kriegspartei“, „der Tiefe Staat“ – so lauten nur einige der Etiketten, die führende Regierungsvertreter den Georgier*innen Tag für Tag an den Kopf werfen. Seit über zwei Jahren wird die Öffentlichkeit mit Hasskampagnen, Desinformation und Rufmord überzogen, häufig orchestriert von koordinierten Netzwerken, anonymen Social-Media-Seiten und staatsnahen Medien.
Ein Propagandakrieg um die Realität
Als die Georgier*innen am 26. Oktober 2024 zur Wahl gingen, drehte sich der Kampf längst nicht mehr um politische Programme, sondern um die Realität selbst. In den Monaten vor und nach der Abstimmung startete die Regierungspartei Georgischer Traum (GD) einen umfassenden Informationskrieg. Mit Kreml-tauglichen Methoden und lokalen Verschwörungsmythen schuf sie ein Parallelnarrativ, in dem die Zivilgesellschaft angeblich eine ausländische Waffe, der Westen der Feind und Proteste vom US-Imperium finanzierte Coups seien.
Nach Angaben der Media Development Foundation wurden allein zwischen Juli und September 2024 mehr als 4 000 antiwestliche Botschaften dokumentiert; 32,9 Prozent richteten sich gegen den „kollektiven Westen“, 23,3 Prozent speziell gegen die USA, gefolgt von prorussischen Inhalten (13,1 Prozent) sowie Angriffen auf die EU (11,5 Prozent) und NGOs (9,7 Prozent). Russland blieb der einzige Akteur, der neutral oder gar positiv dargestellt wurde.
Kampagne der Angst: Die „Globale Kriegspartei“
Die Angstkampagne gipfelte in Plakaten, die zerbombte ukrainische Städte friedlichen georgischen Straßen gegenüberstellten, flankiert vom Slogan „Sag Nein zum Krieg“ und der Zahl 41 – dem Wahlsymbol von GD – als einzigem Garant für Frieden. Die Botschaft war eindeutig: Wer die Opposition wählt, wählt den Krieg; wer den Georgischen Traum wählt, wählt den Frieden.
Dreh- und Angelpunkt bildet die Verschwörung der „globalen Kriegspartei“ – die Behauptung, westliche Regierungen, NGOs und Oppositionsparteien wollten Georgien in einen Konflikt mit Russland hineinzwingen. Regierungstreue Sender, allen voran Imedi TV, wiederholten dieses Narrativ in Dauerschleife. Laut einer Umfrage von CRRC-Georgia glaubte ein Drittel der Bevölkerung daran; 72 Prozent dieser Gruppe sahen darin eine gravierende Bedrohung für das Land.
Russlands Rolle im Wahlkampf 2024
Die Internationale Gesellschaft für freie Wahlen und Demokratie (ISFED) verfolgte während des Wahlkampfs 2024 sowohl offizielle Botschaften als auch anonyme Seiten.
Forscherin Eka Janiashvili berichtete:„Wir beobachteten einen koordinierten Schub an Narrativen, die den Westen und seine Führung massiv angriffen. Diese Inhalte wurden häufig von Fake-Accounts und Troll-Netzwerken verstärkt.“
Diese Botschaften entstanden nicht ausschließlich in Georgien. Der russische Auslandsgeheimdienst (SWR) warf den USA öffentlich vor, die georgische Regierung stürzen zu wollen. Russisch gesteuerte Accounts auf Georgisch übernahmen fast wortgleich die Linie des Georgischen Traums und behaupteten, Washington plane eine Farbrevolution mithilfe lokaler NGOs und Medien.
„Unsere zentrale Erkenntnis war, dass die russische Propaganda nahezu identisch mit dem offiziellen Narrativ des Georgischen Traums war: Die Zivilgesellschaft wurde als Instrument westlicher Einmischung dargestellt.“ – Eka Janiashvili
Wendepunkt 28. November 2024
Nach der Wahl fuhr die Regierung die Eskalation nicht herunter, sondern schaltete einen Gang höher. Am 28. November verkündete der Premierminister, Beitrittsverhandlungen mit der EU würden bis 2028 auf Eis gelegt; wenige Minuten später strömten Menschenmassen spontan auf die Rustaweli-Allee in Tbilissi. GD stempelte den Protest jedoch prompt als westliches Komplott ab. Staatsvertreter und regierungsnahe Medien reanimierten die Erzählung der „globalen Kriegspartei“ und behaupteten nun, USA und EU wollten in Georgien eine „zweite Front“ gegen Russland eröffnen.
„Nach dem 28. November startete eine regelrechte Anti-Protest-Kampagne. Es hieß, die Demonstrationen seien gewalttätig, vom Ausland finanziert und von bezahlten Unruhestiftern angeführt. Selbst ausländische Botschafter gerieten ins Visier.“ – Eka Janiashvili
Gesetzliche Kriegführung: Propaganda wird Politik
Parallel dazu verschärfte die Regierung ihr juristisches Arsenal. Seit Anfang 2023 verabschiedete der Georgische Traum 16 umstrittene Gesetzesänderungen, darunter:
Zwei repressive „Agentengesetze“ gegen Zivilgesellschaft und Medien, die bei Nichtbefolgung Gefängnis vorsehen.
Ein Verbot geschlechtsangleichender Maßnahmen sowie ein Bann sogenannter „LGBT-Propaganda“.
Wahlrechtsänderungen, die Aufsichtsgremien schwächen und das Verbieten von Oppositionsparteien erleichtern.
Neue Straftatbestände, die „Beleidigungen“ von Amtsträgern kriminalisieren, Proteste einschränken und Medienzugang zum Parlament limitieren.
Vorschriften, die ausländische Finanzierung für NGOs kappen, Geschlechterquoten abschaffen und der Zivilgesellschaft Mitsprache bei Gesetzgebungsprozessen entziehen.
Diese Maßnahmen zentralisieren Macht, kriminalisieren Widerspruch und rücken Georgien von seinem europäischen Kurs ab.
Moskaus Spiegelbild: Das Kreml-Handbuch
Viele Taktiken des Georgischen Traums spiegeln unverkennbar das Kreml-Handbuch. Russische Medien verstärkten eifrig die Regierungspropaganda – von Anschuldigungen westlicher Einmischung bis zu absurden Geschichten über ukrainische Scharfschützen, die Tbilissi destabilisieren wollten. Eine gemeinsame Studie von ISFED und Media Development Foundation 2024 deckte ein Netzwerk auf, in dem pro-government Influencer, staatsnahe Medien und anonyme Accounts Kritiker diffamierten und Angst säten.
Unabhängige Journalist*innen wurden online attackiert, NGOs als „ausländische Agenten“ gebrandmarkt, investigative Recherchen mit Memes, Fake-Leaks und Rufmord überflutet.
Ein Land am Abgrund – und der Widerstand
Anfang 2025 steckt die georgische Demokratie in einer tiefen Krise. Internationale Beobachter schlagen Alarm, die EU verurteilt das Vorgehen gegen die Zivilgesellschaft. Im Inland geraten Journalistinnen, Studierende und Aktivistinnen immer stärker unter Druck – nicht nur auf der Straße, sondern im gesamten Informationsraum.
Was Georgiens Lage besonders gefährlich macht, ist der perfekte Sturm aus Kreml-Desinformation, einer hausgemachten Propagandamaschinerie und einem juristischen Angriff auf jede Form des Dissens. Zusammen ziehen diese Kräfte das Land von seinen demokratischen Bestrebungen weg – hin zu autoritären Strukturen.
Doch der Widerstand hält an. Trotz des repressiven Drucks gehen Menschen weiter auf die Straße, unabhängige Medien berichten unbeirrt, und die Zivilgesellschaft kämpft weiter für die Wahrheit.
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