Wer jetzt noch wählt, hat schon verloren
- T. Kartliani
- 20. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Ein Kommentar zur politischen Farce der Kommunalwahlen 2025 in Georgien
Es ist Wahljahr in Georgien. Das Regime ist bereit. Die Opposition ist dezimiert. Und das Volk? Es wird wieder einmal eingeladen, seinem eigenen Ausschluss zuzusehen – demokratisch natürlich, mit Siegel, Stempel und Überwachungskamera.
Die Kommunalwahlen 2025 finden in einem Land statt, in dem die Illusion der Mitbestimmung sorgfältig gepflegt wird, während jede reale Einflussnahme systematisch eliminiert wurde. Wer jetzt noch glaubt, seine Stimme könne etwas bewirken, irrt. Schlimmer noch: Er hilft, den autoritären Status quo zu legitimieren.
Die neue „Säuberung“: Wer widerspricht, verliert
Es beginnt mit einem Satz: „Gemäß Artikel 82, Absatz 2 des Gesetzes über den öffentlichen Dienst endet Ihr Arbeitsverhältnis binnen eines Monats.“ Ohne Erklärung, ohne Begründung, ohne Verteidigung. Hunderte georgische Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst wurden so in den letzten Monaten entlassen – nur weil sie ein pro-europäisches Statement unterschrieben oder einen kritischen Beitrag auf Facebook geteilt haben.
Was früher als institutionelle Stärke galt – Fachkompetenz, Berufserfahrung, internationale Zusammenarbeit – gilt heute als Sicherheitsrisiko. Wer zu viel weiß, wer zu viel denkt, wer zu viel redet, wird entfernt. Nicht wegen Leistung, sondern wegen Haltung.
Staatliche Stellen wie die Nationalagentur für Bewährung, die Stadtverwaltung Tiflis, die Steuerverwaltung, das Innenministerium oder der Datenschutzdienst wurden von missliebigen Fachleuten „gereinigt“. Selbst Mitarbeitende, die an den Antworten auf den EU-Beitrittsfragebogen mitgearbeitet haben, wurden entlassen – offenbar weil Europa nicht mehr ins Konzept passt.
Der Staat verliert damit nicht nur Personal – er verliert Gedächtnis. Institutionelle Erinnerung, Know-how, Integrität. Der Preis ist hoch. Und er wird von den Bürger:innen bezahlt, die bald von einer Verwaltung bedient werden, die sich nicht mehr der Verfassung, sondern der Partei verpflichtet fühlt.
Wer abhängig ist, protestiert nicht – die ökonomische Falle
Die politische Kontrolle endet nicht beim öffentlichen Dienst. Sie reicht tief in die Gesellschaft. 24 % der Erwerbstätigen werden vom Staat bezahlt. Fast ein Fünftel der Bevölkerung bezieht Sozialhilfe. Rund 40.000 Sozialhilfeempfänger:innen sind zusätzlich in sogenannten Beschäftigungsprogrammen gebunden, in denen sie für ihre Kooperation 300 Lari monatlich erhalten.
Sozialpolitik wird damit zur Wahlstrategie. Wer spurt, bekommt mehr. Wer kritisiert, fliegt raus. Die Programme sollen angeblich zur Reintegration beitragen – in Wirklichkeit stabilisieren sie ein System ökonomischer Erpressbarkeit. Die perfekte Wählerbasis: abhängig, einschüchterbar, strukturell mundtot.
Die Farce der Wahlgeheimnisse
Schon 2024 wurde das Wahlgeheimnis verletzt. Die Wahlzettel waren so gestaltet, dass bei Lichteinfall die Markierung sichtbar wurde – vor allem im Bereich, in dem die Regierungspartei „Georgian Dream“ platziert war. Internationale Beobachter dokumentierten den Skandal, die Wahlkommission versuchte sich mit „präventiven Maßnahmen“ zu rechtfertigen. Doch die Botschaft war längst angekommen: Wer gegen die Regierung stimmt, könnte beobachtet werden.
Ein Wahlsystem, das das Vertrauen der Bürger verspielt hat, ist nicht reformbedürftig – es ist disqualifiziert. Wer sich an einer solchen Wahl beteiligt, spielt mit in einem Spiel, dessen Regeln längst gebrochen sind.
Parteienverbot per Eilverfahren
Als wäre das nicht genug, wurde im Mai 2025 ein Gesetz verabschiedet, das das Verfassungsgericht ermächtigt, Parteien innerhalb von 14 Tagen zu verbieten. Die Kriterien sind vage, dehnbar und manipulierbar: Eine Partei, deren Mitglieder früher einer verbotenen Organisation angehörten oder deren Programm „verfassungswidrig“ erscheint, kann sofort gelöscht werden – auch mitten im Wahlkampf.
So entsteht ein Parteienmarkt, der aussieht wie Demokratie, aber nur noch ein Monopol zulässt. Ein pluralistisches Angebot wird ersetzt durch einen Filtermechanismus, der alles entfernt, was der Macht gefährlich werden könnte. Die Urne bleibt stehen – aber sie ist leer.
Der vergessene Krieg: Georgiens Drogenpolitik
In diesem autoritären Arrangement spielt die Drogenpolitik eine stille, aber zentrale Rolle. Fast 50.000 Menschen in Georgien sind registrierte injizierende Drogenkonsumenten – weltweit ein Spitzenwert. Die Regierung begegnet diesem Umstand nicht mit Prävention oder Therapie, sondern mit Repression.
Georgien hat eines der strengsten Drogengesetze Europas. Konsumenten, selbst bei minimalem Besitz, drohen mehrjährige Haftstrafen. Die Justiz urteilt hart, die Polizei handelt brutal. Und das System wirkt: Drogenabhängige sind stigmatisiert, eingeschüchtert – und vollständig von staatlicher Gnade abhängig.
Gleichzeitig hat sich die Szene längst verlagert. Neue, synthetische Drogen sind billig, potenter und leichter zu beschaffen – meist online, meist anonym. Die Polizei kann damit nicht umgehen. Was bleibt, ist der Fokus auf Konsumenten, nicht auf Dealer. Die Drogenpolitik dient also nicht der Bekämpfung von Sucht – sie dient der Kontrolle über gesellschaftliche Ränder.
Denn wer abhängig ist, hat keine Stimme. Wer Angst vor Strafverfolgung hat, geht nicht auf die Straße. Und wer einmal verurteilt wurde, ist für das System erledigt. Kein Arbeitsplatz, kein Stimmrecht, kein Vertrauen – genau so, wie es das Regime braucht.
Die Zerstörung der Verwaltung als Strategie
Was hier passiert, ist keine Unachtsamkeit. Es ist Strategie. Ein Staat, der seinen öffentlichen Dienst systematisch entleert, seine Sozialpolitik zur Belohnungskultur umfunktioniert, Drogenkonsumenten als Delinquenten kriminalisiert und gleichzeitig die Wahlen manipuliert, will nicht regieren – er will herrschen.
Die EU-Beitrittsperspektive, einst gemeinsames nationales Ziel, wurde fallengelassen wie ein altes Wahlversprechen. Kritiker:innen werden zu Agenten erklärt, Proteste zur Sicherheitsgefahr, Parteien zur Bedrohung. In der Sprache des Regimes gibt es nur noch „Freunde“ und „Feinde“.
Wer in dieser Realität noch hofft, durch seine Stimme etwas zu ändern, hat den Charakter des Systems nicht verstanden.
Boykott ist die letzte demokratische Handlung
In einer funktionierenden Demokratie ist der Wahlboykott eine Sünde. In einer autoritären Simulation ist er Pflicht. Wer an dieser Wahl teilnimmt, stimmt nicht nur über Bürgermeisterposten ab. Er stimmt darüber ab, ob dieses System fortbestehen darf.
Der Boykott der Kommunalwahlen 2025 ist kein Rückzug. Er ist Widerstand. Ein Zeichen dafür, dass man das Spiel nicht mehr mitspielen will. Dass man sich weigert, seine Stimme in ein System zu werfen, das keine Stimmen zählt, sondern Loyalitäten.
Es wird Zeit, dass wir aufhören, uns mit der Oberfläche zu begnügen. Dass wir Wahlen nicht mehr mit Demokratie verwechseln. Dass wir nicht länger so tun, als sei politische Teilhabe möglich, wenn politische Meinung kriminalisiert wird.
Georgien steht nicht vor einer Wahl. Georgien steht vor der Entscheidung, ob es sich selbst noch ernst nimmt.
Comentarios