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„Wahlen sind kein Ritual“ – Interview mit Beka Liluashvili (Gakharia – Für Georgien) und eine kritische Analyse

Ein Gespräch mit Beka Liluashvili – und was es verschweigt


Zwischen Hoffnung und Systemlogik

„Wir bereiten uns auf die Kommunalwahlen und jede andere Wahl vor.“So beginnt Beka Liluashvili, führender Vertreter der Partei „Gakharia – Für Georgien“, sein Gespräch mit Tiflis24. Sein Hauptargument: Man dürfe kein politisches Terrain kampflos der Regierungspartei überlassen. Die Wahlen seien „eine Arena des Kampfes“.

„Wir glauben, dass alle Kampffelder genutzt werden müssen – und die Wahlen sind eines davon.“

Doch was, wenn dieses Kampffeld längst vom Gegner kontrolliert wird? Wenn es keine Chancengleichheit, keine freie Presse und keine unabhängige Justiz mehr gibt?


Rückblick: Die Kommunalwahlen 2021 als warnendes Beispiel

Die Kommunalwahlen 2021 gelten heute als Beispiel für eine zunehmend kontrollierte politische Landschaft. Die Wahlbeobachtungsorganisation ISFED dokumentierte systematische Verstöße gegen faire Wahlstandards – insbesondere im digitalen Raum:

  • Über 180 anonym betriebene Facebook-Seiten waren im Vorfeld aktiv, viele davon parteipolitisch motiviert, aber nicht transparent deklariert

  • Diese Seiten verbreiteten gezielte Desinformation, persönliche Angriffe und parteiische Narrative – zum Teil unter Nutzung nicht-authentischer Profile

  • Offizielle Kanäle von Kommunen veröffentlichten Inhalte, die de facto als indirekte Wahlwerbung für Amtsinhaber fungierten

  • Auch auf Plattformen wie TikTok oder Viber wurde politische Kommunikation auf intransparente Weise betrieben - ISFED.

Die Nutzung administrativer Ressourcen, das Verschwimmen der Grenzen zwischen Partei und Staat, sowie die gezielte Verzerrung des Informationsumfelds stellten eine klare Gefährdung der Gleichheit im Wahlkampf dar.

Die Widersprüche in Liluashvilis Argumentation

Liluashvili beschreibt selbst das Ausmaß der Verschlechterung:

„Nach den Parlamentswahlen 2024 wurde das Wahlrecht nochmals verschärft. Der Druck auf politische Gegner, die Gewalt, die Verhaftungen – all das hat zugenommen.“

Und dennoch plädiert er für Teilnahme. Auf die Frage, ob dies nicht die Legitimität des Systems stärke, sagt er:

„Manche sagen, eine Wahlteilnahme gibt der Regierung Legitimität. Aber was ist denn die Quelle von Legitimität? Es ist die Einschätzung der georgischen Bürger:innen – ob die Wahlen fair und gesetzeskonform durchgeführt wurden.“

Das Problem dabei: Die Regierung kontrolliert nicht nur die Durchführung, sondern auch die Wahrnehmung. Wenn internationale Beobachter nicht ernst genommen, Medien gleichgeschaltet und NGOs kriminalisiert werden – wessen Einschätzung zählt dann überhaupt?


Die Boykottfrage – klug gestellt, schwach beantwortet

Liluashvili stellt eine berechtigte Frage:

„Was passiert nach dem Boykott? Was schlagen die boykottierenden Parteien konkret vor?“

Doch diese Frage muss auch an ihn zurückgestellt werden: Was passiert nach der Teilnahme? Was, wenn die Regierung wieder einmal kontrolliert, manipuliert und medial begleitet, ohne dass der Protest wirkt? Wenn das System wie 2021 wieder durchkommt?

Er sagt:

„Es ist schwer vorherzusagen, aber wir glauben, dass die Opposition in mehreren großen Städten gewinnen kann.“

Doch selbst wenn das stimmt – was bringt ein Stadtratssitz in einem Land, in dem Bürgermeister jederzeit entmachtet, Haushalte blockiert und Wahlen rückgängig gemacht werden können?


Die große Hoffnung: Tiflis als Hebel

Liluashvili setzt auf Symbolkraft:

„Wenn die Opposition etwa in Tiflis gewinnt, könnte das ein Hebel sein, um Kontraste zur aktuellen Regierungspolitik sichtbar zu machen. Etwa beim Bauwesen oder der Verkehrspolitik.“

Klingt plausibel – wäre Georgien eine parlamentarische Demokratie mit funktionierender Gewaltenteilung. Doch die Realität ist: Auch in Tiflis agiert das Bürgermeisteramt unter strikter Kontrolle, und politische Entscheidungsfreiheit endet oft beim Ministerium für Regionalentwicklung. Die Vision eines „Tiflis ohne Korruption“ bleibt ein Wunschbild – solange alle entscheidenden Ressourcen zentral gesteuert werden.


Die Wirtschaftskritik – treffend, aber folgenlos

Liluashvili liefert eine erstaunlich klare Diagnose der wirtschaftlichen Lage:

„Wir haben eine Potemkinsche Wirtschaft. Das Kreditwachstum ist eingebrochen, Haushaltsmittel fehlen, der Konsum basiert auf Schulden.“

Er nennt sinkende Steuereinnahmen, Haushaltskürzungen in den Regionen, rückläufige Investitionen. Und dennoch schließt er nicht, was sich aufdrängt: Dass politische Teilhabe unter diesen Bedingungen keinen Sinn ergibt.

„Das System versucht, sich mit der Wirtschaft zu legitimieren. Aber das merken die Menschen – spätestens, wenn sie den Kühlschrank öffnen.“

Warum also nicht konsequent sein – und ein solches System komplett delegitimieren?


Der demokratische Lack ist ab

Wer nach den Erfahrungen von 2021 noch an faire Wahlen in Georgien glaubt, betreibt politische Naivität oder kalkulierte Augenwischerei. Die Kommunalwahlen 2025 sind kein demokratisches Instrument mehr – sie sind eine Kulisse. Die Teilnahme daran bietet vielleicht Sichtbarkeit, aber keinen Wandel.

Wirkliche Veränderung braucht klare Kante, neue Formate des Widerstands und vor allem: den Mut, sich nicht länger instrumentalisieren zu lassen.


Das Interview: Beka Liluashvili im Wortlaut

(Wörtliche Mitschrift der Fragen und Antworten, geführt durch die Redaktion von Tiflis24 – ohne redaktionelle Änderungen)


Frage: Wie bekannt ist, plant Ihre Partei die Teilnahme an den Kommunalwahlen. Die Mitglieder sagen, das sei eine strategische Form des Kampfes. Wie wollen Sie mit dieser Strategie Ihr Hauptziel erreichen?

Antwort: Unsere erklärte öffentliche Position zu den Wahlen ist seit über zwei Monaten unverändert und konsequent. Wir bereiten uns auf die Kommunalwahlen und jede andere Wahl vor. Alles, was mit der Wahlvorbereitung zu tun hat, durchlaufen wir aktuell vollständig. Gleichzeitig betonen wir stets, dass wir – sollte sich unsere Position ändern – das sehr klar und offen gegenüber unserem Publikum, unseren Wähler:innen und allen Interessierten kommunizieren werden.

Natürlich versucht die Propaganda, unserer Parteihaltung unterschiedliche Bedeutungen zuzuschreiben. Aber unsere Entscheidungen werden ausschließlich durch die Haltung der Wähler:innen beeinflusst – nicht durch innen- oder außenpolitischen Druck. Wir sind eine Partei, die nie eine radikale Agenda zur Steuerung politischer Prozesse hatte. Wir glauben nicht, dass revolutionäre Entwicklungen in diesem Land eine Lösung sind. Wir sind überzeugt, dass Wahlen der einzig nicht-radikale Weg sind, Macht zu verändern – und das ist bisher unsere Position.

Einige Wähler:innen stellen sich die Frage, ob ein Boykott nicht sinnvoller wäre. Wir respektieren jede Haltung, aber wir fragen auch: Gut, einverstanden – aber was geschieht nach dem Boykott? Was schlagen die Parteien, die einen Wahlboykott fordern, der Gesellschaft konkret vor, um ihre Ziele zu erreichen?

Frage: Also sehen Sie die Wahlen als strategisches Mittel – nicht nur als Möglichkeit zur Machtübernahme?

Antwort: Es hängt von vielen Faktoren ab. Aber allein die Tatsache, dass man sich vorbereitet und an der Wahl teilnimmt, hilft der Gesellschaft zumindest, mehr Wahrheit und klare Positionen zu hören. Ob ein Ergebnis erreicht wird, hängt von vielem ab – unter anderem davon, ob die „Georgischer Traum“-Partei das Umfeld noch weiter verschlechtert, ob es wieder zu großflächigem Stimmenraub kommt. Aber wir glauben, unter bestimmten Konstellationen ist ein Sieg der Opposition in einigen großen Städten durchaus möglich. Auch bei den Parlamentswahlen – trotz massiver Fälschung – hatte die Opposition in Tiflis die Mehrheit der Stimmen.

Frage: Damals war die Lage aber weniger angespannt als heute.

Antwort: Das stimmt – und deshalb ist es schwer, genaue Prognosen zu machen. Aber wenn sich eine Partei zur Teilnahme entschließt, muss ihr Ziel sein, auch ein Ergebnis zu erzielen.

Frage: 2021 hat in Tsalenjikha ein Oppositionskandidat gewonnen – ohne spürbaren Effekt. Was wäre diesmal anders?

Antwort: Stellen wir uns vor, die Opposition gewinnt in mehreren großen Städten, darunter Tiflis – ob koalitionsbasiert oder nicht. Das hätte großen symbolischen und praktischen Einfluss. Die Opposition hätte die Plattform, um mit der Bevölkerung zu kommunizieren, und könnte deutliche Kontraste aufzeigen – etwa beim Bauwesen ohne Korruption, bei Verkehrspolitik ohne Chaos oder bei einer gesunden Stadtentwicklung. Wenn es gelingt, selbst Unterstützer der Regierungspartei von einem Wechsel zu überzeugen, wäre das ein erster Schritt.

Ich sage nicht, dass Giorgi Iwanischwili am nächsten Tag seine Koffer packt und nach Russland fliegt – aber ein solcher Machtwechsel in Tiflis wäre ein Hebel, den die Opposition seit zehn Jahren nicht hatte.

Frage: Aber was, wenn die Wahlbeteiligung gering ist oder die Wahl manipuliert wird?

Antwort: Dann sieht es natürlich anders aus. Aber stellen wir uns das Gegenteil vor: Es gibt einen Boykott, die Wahl wird ohne Fälschung durchgeführt, weil sie gar nicht nötig ist – die „formale Opposition“ zieht ins Parlament, alles bleibt wie es ist, niemand dokumentiert Unregelmäßigkeiten, weil keine nötig waren. Dann bleibt die Protestenergie zwar bestehen – aber was passiert danach? Diese Frage können Boykottbefürworter leider nicht beantworten.

Frage: Immer wieder wird der Einsatz administrativer Ressourcen beklagt. Wie kann man das eindämmen?

Antwort: Das war immer ein Problem – besonders 2024. Es wurde mit Einschüchterung gearbeitet, mit Kontrollmechanismen, mit Callcentern vor Wahllokalen. Der Druck auf Beamte war gewaltig. Dennoch: In Großstädten, wo die Menschen besser informiert sind, konnte die Opposition trotzdem gewinnen. Und auch die Haltung innerhalb des Verwaltungsapparats verändert sich – viele Beamte sind heute kritischer eingestellt gegenüber der Regierung als noch vor wenigen Jahren.

Frage: Aber der Druck auf Staatsangestellte ist nach wie vor enorm?

Antwort: Natürlich. Aber diese Einschüchterung funktioniert nicht mehr so gut. 2024 drohte man offen: „Wer nicht die Regierungspartei wählt, wird identifiziert und verliert den Job.“ Aber entlassen wurden am Ende nur die, die öffentlich eine andere Meinung vertraten. Die Beamten merken das. Sie sind nicht dumm. Sie erkennen: Die Drohungen sind leer.

Frage: Wenn es zum Zeitpunkt der Wahlen noch politische Gefangene gibt – haben Sie dafür eine Strategie?

Antwort: Das betrifft sehr sensible taktische und strategische Überlegungen, über die wir derzeit nicht öffentlich sprechen möchten.

Frage: Giorgi Gakharia sprach von einer dritten Phase – wirtschaftliche Stagnation. Warum hat sich das verzögert?

Antwort: Es hat sich nicht verzögert. Wir leben heute in einer „Potemkinschen Wirtschaft“. Was als Wachstum verkauft wird, hat keine reale Grundlage. In vielen Gemeinden wird bereits an den Haushalten gespart. Die Kreditvergabe ist eingebrochen, die Mehrwertsteuer wächst kaum noch. Die Regierung versucht, mit Einnahmen aus Russland Zeit zu gewinnen.

Und der Kurs des Lari? Der ist kein zuverlässiger Indikator. Wenn der Import sinkt, sinkt die Nachfrage nach Fremdwährung – deshalb wirkt der Kurs stabil. Aber die fundamentalen Zahlen stimmen nicht mehr.

Was wir erleben, ist reiner Konsum auf Kredit. Banken schreiben Milliardengewinne – auf Kosten der Bevölkerung. Wenn es reale wirtschaftliche Dynamik gäbe, bräuchte man keine Propaganda-Dokumentarfilme über „Wirtschaft 2030“. Jeder würde es im Kühlschrank sehen.

Yorumlar


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