Uniformierte Willkür: Wenn der Staat zum Angreifer wird
- T. Kartliani
- 15. Mai
- 3 Min. Lesezeit
Wenn in einem Land mehr Jugendliche im Gefängnis sitzen als korrupte Beamte, wenn Polizeiautos zu mobilen Folterkammern werden und wenn ein Menschenrechtsbericht ca. 222 Seiten braucht, um all das zu dokumentieren – dann sprechen wir nicht über Belarus. Willkommen in Georgien, 2025.
Ein aktueller Abschlussbericht georgischer zivilgesellschaftlicher Organisationen zur Menschenrechtslage zieht eine bittere Bilanz: Der Staat, der einst als Musterschüler der europäischen Nachbarschaftspolitik galt, ist heute ein Paradebeispiel für die systematische Aushöhlung von Grundrechten. Die zentralen Themen: Polizeigewalt, Misshandlungen, gezielte Repressionen gegen junge Demonstrierende – und ein Justizsystem, das nicht interveniert, sondern exekutiert.
Die Straße gehört der Polizei: Repression statt Rechtsstaat
Der Bericht dokumentiert dutzende Fälle, in denen Demonstrierende brutal zusammengeschlagen, willkürlich festgenommen und anschließend erniedrigt wurden. Die Verantwortlichen tragen Uniformen, aber keine Identifikationsnummern – ein klassisches Zeichen dafür, dass Gewalt nicht sanktioniert, sondern einkalkuliert ist.
Ein besonders verstörender Fall ist der eines 20-jährigen Mannes, der lediglich seine Freundin auf einer Demonstration treffen wollte. Stattdessen wurde er von maskierten Polizisten verfolgt, geschlagen, mit Mord- und Vergewaltigung bedroht. Während er bereits verletzt am Boden lag, wurde er weiterhin beschimpft und sexuell erniedrigt.
„Sie sagten: ‚Fahren wir in eine Gasse, filmen wir das, schlagen wir ihn halbtot und werfen ihn irgendwo raus‘“, so der Betroffene. Ein Beamter habe ihm ans Bein gefasst. Als er sich wehrte, wurde er ins Gesicht geschlagen – mit dem Kommentar: „Gibst du mir etwa Kontra?“
Die Misshandlungen endeten nicht auf der Straße. In Polizeiwachen wurden Festgenommene gezwungen, sich auszuziehen, sich in erniedrigenden Positionen hinzustellen und „Geständnisse“ zu wiederholen, während sie gefilmt wurden. Das Ziel ist offensichtlich: Einschüchterung, Demoralisierung, Brechung jedes Widerstands.
Wer demonstriert, verliert – seine Rechte
Die Jahre 2023 und 2024 markieren eine neue Qualität staatlicher Gewalt. Besonders nach den Protesten gegen das „russische Agentengesetz“ griff die Polizei zu systematischen Verhaftungen. Laut Bericht wurden allein am 7. März 2023 über 140 Personen festgenommen – viele davon ohne Haftbefehl, ohne Begründung, ohne Zugang zu Anwält:innen.
Die Demonstrierenden berichten von Schlägen in Bussen, Misshandlungen in dunklen Polizeistationen, und Einschüchterung durch psychische Folter. Ein junger Mann sagte aus:
„Sie haben mir ins Gesicht geschlagen, mir gedroht, mich zu vergewaltigen und zu töten. Einer sagte, er würde meine Freundin vergewaltigen und mir das Video schicken.“
Die systematische Natur dieser Repression wird im Bericht mehrfach hervorgehoben: Gewalt gegen Demonstrierende sei kein Ausreißer, sondern institutionell eingebettet. Die Tatsache, dass viele Beamte ihre Gesichter verdecken und keine Identifikation tragen, spricht Bände – nicht über ihr Schamgefühl, sondern über das fehlende Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung.
Eine Justiz, die lieber zusieht
Was tun Polizei und Regierung? Nichts. Was tun Gerichte? Noch weniger. Zahlreiche Anzeigen wegen Polizeigewalt wurden entweder nie bearbeitet oder sofort eingestellt. Das Innenministerium spricht stattdessen öffentlich von „legitimen Eingriffen zur Aufrechterhaltung der Ordnung“ – eine Formulierung, die in Georgien längst zur Worthülse der Repression geworden ist.
Währenddessen werden Gerichtsprozesse gegen Demonstrierende wie Fließbandverfahren abgewickelt. Innerhalb weniger Stunden werden Urteile gefällt, ohne rechtliches Gehör, ohne unabhängige Beweise, oft basierend allein auf den Aussagen der Polizei.
In einem Fall wurden drei junge Männer wegen „Nichtbefolgens polizeilicher Anweisungen“ zu Geldstrafen verurteilt – obwohl Videobeweise das Gegenteil belegten. Das Gericht lehnte es ab, das Material zu berücksichtigen. Begründung: „Es sei nicht relevant.“
Gewalt auch gegen Minderjährige
Besonders schockierend ist der Umgang mit Jugendlichen. Der Bericht dokumentiert Fälle, in denen 16- und 17-Jährige geschlagen, bedroht und stundenlang festgehalten wurden – ohne elterliche oder anwaltliche Begleitung. Ein 17-Jähriger berichtet, wie er gezwungen wurde, sein Handy-Passwort preiszugeben, während ihm Schläge angedroht wurden.
„Sie sagten, ich solle zugeben, dass ich von ausländischen Organisationen bezahlt werde“, berichtet der Schüler. „Als ich fragte, was das soll, wurde ich geohrfeigt.“
Kinderschutz? Ein Fremdwort in einem System, das auf Einschüchterung durch Exempel setzt. Die psychischen und physischen Folgen dieser Misshandlungen werden im Bericht eindrücklich beschrieben – es geht um Angststörungen, posttraumatische Belastung und langfristige soziale Isolation.
Internationale Standards? Fehlanzeige.
Georgien hat zahlreiche menschenrechtliche Verpflichtungen unterzeichnet – darunter die Europäische Menschenrechtskonvention. Doch während sich das Land auf offizieller Ebene immer wieder als „Reformchampion“ inszeniert, spricht der Bericht eine andere Sprache: ein strukturelles Versagen der Menschenrechtsarchitektur, von oben gedeckt und von unten ausgeführt.
Besonders kritisiert wird das Fehlen unabhängiger Kontrollmechanismen. Die Sonderermittlungsbehörde, die eigentlich Polizeigewalt untersuchen soll, ist personell unterbesetzt, institutionell abhängig und politisch gelähmt. Von über 300 Beschwerden wegen Misshandlung wurden nur eine Handvoll weiterverfolgt – Verurteilungen gab es keine.
Ein Land schlägt seine Zukunft
Was bleibt von einem Staat, der seine kritische Jugend misshandelt, Journalisten einschüchtert und Gerichte als Folie für autoritäre Machtspiele benutzt? Der Bericht antwortet klar: ein Regime, das Angst vor der eigenen Bevölkerung hat – und das genau deshalb mit Gewalt antwortet.
Georgien steht am Scheideweg. Während Europa genau hinschaut – oder es zumindest sollte –, zeigt die Realität auf der Straße ein anderes Bild. Dort herrscht nicht das Gesetz, sondern der Schlagstock. Und jeder junge Mensch, der für eine andere Zukunft kämpft, riskiert, sie im Polizeigewahrsam zu verlieren.
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