Tbilisi State University: Zwischen Hörsaal und Überwachungsstaat – Willkommen im Jahr 1984
- Goga Machavariani
- 8. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Es klingt wie ein schlechter Witz, aber leider ist es keiner: Die Tbilisi State University (TSU) hat sich offenbar in ein Außenbüro des georgischen Staatssicherheitsdienstes verwandelt. Wo früher Diskussionen über Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat geführt wurden, herrscht heute die leise Angst vor Bespitzelung – und das mitten in einem Land, das sich der europäischen Integration verschrieben hat. Ach, Georgien, wie hast du’s nur geschafft, so schnell so weit zurückzurudern?
Agenten statt Assistenten: Wenn die Seminararbeit plötzlich ein Geheimdienstbericht ist
Die Namen Herr Kharjevanidze und Herr Shamatava geistern inzwischen wie düstere
Legenden durch die Flure der Universität. Offiziell tauchen sie nirgendwo auf, aber inoffiziell weiß längst jeder, wer hier wessen Auftrag ausführt. Laut internen Kreisen arbeiten diese Herren als Agenten des Staatssicherheitsdienstes – ihre Mission: die Erfassung und Katalogisierung oppositionell eingestellter Dozent:innen und Studierender. Wissenschaftlicher Diskurs? Fehlanzeige. Stattdessen wird die Anwesenheitsliste zur Verdächtigenkartei.
Die Informationsweitergabe an die Behörden ist dabei nur der erste Schritt. Was danach folgt, ist ein sorgfältig choreografiertes Schauspiel der Repression. Wer sich kritisch äußert, findet sich schneller auf der Abschussliste wieder, als er „akademische Freiheit“ sagen kann.
Seminar oder Straflager? Die Universität als Bühne für staatliche „Strafoperationen“
Besonders eindrucksvoll – oder sollte man sagen: erschreckend – manifestierte sich dieses neue Verständnis von „Campus-Sicherheit“ während einer Vorlesung von Irakli Kobakhidze. Während draußen Studierende einen friedlichen Protest organisierten, inszenierte der Staat eine Art Lehrstück in praktischer Repression: Maskierte Schlägertrupps griffen die Protestierenden an, während die Polizei, vertreten durch keinen Geringeren als Goga Memanishvili, stoisch zusah. Oder war es doch aktive Komplizenschaft?
Die Videoaufnahmen sprechen jedenfalls Bände: Kein Angreifer wurde festgenommen, keine Ermittlungen eingeleitet – stattdessen kursierte plötzlich das Narrativ, die Studierenden hätten die Eskalation provoziert. Klassiker der Täter-Opfer-Umkehr, fast schon nostalgisch für alle, die die Kommunikationsstrategien autoritärer Regime studieren.
Okhanashvili: Der Mann, der lieber Stasi als Staat macht

Im Hintergrund zieht ein altbekannter Name die Fäden: Anri Okhanashvili, frisch beförderter Chef des Staatssicherheitsdienstes. In der Vergangenheit liebte er es, sich auf deutsche Rechtsmodelle zu berufen – zumindest solange es der eigenen Machtsicherung diente. Ironischerweise scheint er sich dabei weniger an den Prinzipien der Bundesrepublik orientiert zu haben, sondern eher an der Staatssicherheit der DDR, auch bekannt als Stasi.
Man fragt sich unweigerlich: Hat Okhanashvili einen Reiseführer „Geheimdienste Europas“ gelesen – und einfach das falsche Kapitel markiert? Denn was sich derzeit an der TSU abspielt, erinnert fatal an die Praktiken der DDR-Geheimpolizei: Spitzel unter den Studierenden, ideologische Säuberungen unter den Dozent:innen, Manipulation von Berufungsverfahren und systematische Einschüchterung.
Vom Hörsaal zum „ideologischen Kampfgebiet“: Herzlichen Glückwunsch, TSU!
Die Parallelen sind erschütternd. In der DDR war es die erklärte Aufgabe der Stasi, Universitäten zu überwachen, zu steuern und ideologisch zu reinigen. Kritische Forschungsansätze wurden verboten, „unzuverlässige“ Wissenschaftler:innen entfernt, inoffizielle Mitarbeiter platziert, um selbst die privatesten Gespräche zu belauschen.
Und jetzt? Genau dieses Drehbuch scheint auch in Tbilisi Anwendung zu finden. Wer zu laut denkt, wird zum Feind erklärt. Wer wagt, Fragen zu stellen, wird isoliert. Wer sich organisiert, wird kriminalisiert. Die Universität wird so nicht zum Ort der Wissensproduktion, sondern zum ideologischen Schlachtfeld einer Regierung, die sich mehr vor abweichenden Meinungen fürchtet als vor internationaler Kritik.
„Studentische Selbstverwaltung“ oder doch nur die Nachwuchsabteilung des Geheimdienstes?
Und als ob das alles nicht schon absurd genug wäre, spielt auch die studentische Selbstverwaltung eine fragwürdige Rolle in diesem System. Seit 2006, als das Bildungsministerium die Wahlordnung für die studentische Selbstverwaltung nach einem neuen Modell festlegte, äußerten kritische Stimmen bereits den Verdacht, dass hier nicht die Unabhängigkeit der Studierenden gestärkt, sondern vielmehr ein Rekrutierungsbüro für den Staatssicherheitsdienst geschaffen wurde.
Tatsächlich hat sich die studentische Selbstverwaltung in den letzten Jahren immer mehr zu einem politischen Klüngelverein privilegierter Studierender entwickelt – ein Pendant zu den früheren „Studentenwerken“ unter autoritären Regimen. Statt die Interessen der Studierenden zu vertreten, dient sie als verlängerter Arm der Universitätsleitung und damit der Regierung. Sie organisiert nicht Proteste, sondern sorgt dafür, dass es erst gar keine gibt. Sie kritisiert nicht die Machthaber, sondern verteidigt sie. Sie ist nicht Stimme der Studierenden – sie ist deren Überwachungsorgan.
Die Ironie ist kaum zu überbieten: Aus einer Organisation, die ursprünglich zur Förderung der studentischen Teilhabe geschaffen wurde, ist ein Werkzeug geworden, um abweichende Stimmen zu kontrollieren, zu manipulieren und zu unterdrücken. Ein trauriger Abgesang auf die Idee studentischer Autonomie – und ein weiteres Beispiel dafür, wie tief die autoritären Tentakel des Staates bereits ins universitäre Leben vorgedrungen sind.
Freiheit? Ach, das war doch nur ein kurzes Erasmus-Semester
Besonders bedrückend ist die vollkommene Stille von offizieller Seite. Kein Aufschrei, keine Debatte, keine Transparenz. Stattdessen ein verstörendes Schweigen, das nur eins signalisiert: Man hat sich längst mit dem Überwachungsstaat auf dem Campus arrangiert – oder war selbst federführend daran beteiligt.
Und währenddessen feiert sich die Regierung weiter als treibende Kraft europäischer Integration. Ironisch, dass man dabei einen der grundlegendsten europäischen Werte, die akademische Freiheit, mit Füßen tritt. Artikel 78 der georgischen Verfassung verpflichtet den Staat, die Integration in die Europäische Union voranzutreiben. Doch wie soll ein Land diesen Weg gehen, wenn die Universitäten nicht einmal die Freiheit garantieren können, zu lehren und zu lernen, ohne bespitzelt zu werden?
Mut ist ansteckend – Repression leider auch
Die eigentliche Tragik liegt darin, dass diese Entwicklung in einem Land stattfindet, das sich selbst als demokratisch versteht. Georgien steht an einem Scheideweg: Will es den Weg der offenen Gesellschaft, der Freiheit und der Demokratie gehen – oder den Weg der Überwachung, Repression und ideologischen Gleichschaltung?
An der TSU jedenfalls weht derzeit ein kalter Wind aus der Vergangenheit. Und wie wir aus der Geschichte wissen: Wer Universitäten knebelt, legt die Axt an die Wurzeln einer freien Gesellschaft.
Die Hoffnung liegt jetzt bei den Studierenden und den wenigen unerschrockenen Dozent:innen, die sich diesem Druck nicht beugen. Denn am Ende gilt: Die Geschichtsbücher werden nicht von den Mitläufern geschrieben, sondern von denen, die den Mut hatten, Nein zu sagen.
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