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Imperien, Agenten und andere Wahrheiten: Orwell hätte es geliebt

Man könnte fast glauben, es handele sich um ein eher unoriginelles Naturgesetz: Je näher eine Regierung sich an Moskau heranlehnt, desto lauter wird ihr Geschrei über das „imperiale Brüssel“, die „moralische Dekadenz“ Europas oder die angebliche „Doppelmoral“ des Westens.

Aber wer sich die Mühe macht, wirklich hinzuhören – und, wichtiger noch, Texte und Reden aus Ungarn, Rumänien, Moldau oder Georgien nebeneinanderlegt –, erkennt Muster, die sich nur schwer mit Zufall erklären lassen.

Es ist ein politisches Theaterstück, das in Budapest geprobt, in Bukarest adaptiert, in Chișinău perfektioniert und in Tiflis bis zur Karikatur getrieben wird. Immer mit denselben Rollen: der gütige nationale Führer, das bedrohte Vaterland und der böse Kolonialherr aus Brüssel.

Die Regieanweisungen scheinen allerdings aus einer anderen Hauptstadt zu kommen. Und diese liegt – Spoiler – nicht in der EU.

„Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.“

George Orwell – 1984 (Project Gutenberg Australia)

Diese berühmte Formel beschreibt perfekt, was wir hier beobachten: Brüssel, das Milliarden an Fördergeldern überweist, wird zum „Imperium“ erklärt. Ein Gesetz, das aus Moskau abgeschrieben ist, wird als „Schutz der Souveränität“ verkauft. Kritik an Korruption wird zur „Erpressung“ uminterpretiert.

Es ist kein Zufall, sondern eine gezielte Verkehrung der Begriffe – eine Sprache, die nicht aufklären soll, sondern Loyalität einfordert.

„If thought corrupts language, language can also corrupt thought.“

Diese Warnung Orwells ist aktueller denn je. Wer Brüssel systematisch als Besatzer brandmarkt und jede Kritik aus Europa als Einmischung oder Erpressung denunziert, betreibt keine normale politische Debatte. Er zerstört das Denken selbst, indem er es in starre Feindbilder zwingt.

Die Ironie könnte fast komisch sein, wenn sie nicht so erfolgreich wäre. Denn während Ungarns Regierung die EU als Imperium verteufelt und gleichzeitig Rekordgelder kassiert, verkauft Georgiens Regierung Moskau-geklaute Gesetze als nationalen Befreiungsschlag.

Wer glaubt, das seien Einzelfälle, wird im Folgenden enttäuscht werden. Denn diese Narrative sind nicht nur identisch – sie sind strukturell verbunden, finanziell unterstützt und werden mit den gleichen Werkzeugen gepflegt.

Es wird Zeit, das einmal auseinanderzunehmen.


Brüssel als „imperiale Macht“ – das Lieblingsmotiv

Beginnen wir mit dem ältesten und simpelsten Propagandabaustein: Europa als Unterdrücker.

Viktor Orbán perfektionierte diesen Spin. Am 23. Oktober 2023, bei der nationalistischen Inszenierung des ungarischen 1956-Aufstands, erklärte er ungerührt:

„Wir werden nicht Teil eines europäischen Imperiums werden.“Quelle: Telex.hu

Das ist keine bloße Rhetorik für die heimische Bühne, sondern Teil einer seit Jahren aufgebauten Strategie, Brüssel als Besatzungsmacht zu framen.

Orbán spricht nicht nur von „Imperium“, sondern auch von „Brüsseler Bürokraten“ als Besatzern. Ganz so, als stehe die EU-Panzerdivision vor Budapest – während gleichzeitig Rekordbeträge aus Brüssel Ungarns Autobahnen, Schulen und Landwirtschaft finanzieren.

Aber auch andernorts in der EU klingt es erstaunlich ähnlich.

Rumäniens damaliger PSD-Chef Liviu Dragnea beklagte 2018:

„Die EU-Kommission will Rumänien beugen.“Reuters, 28.06.2018

Auch hier wird Brüssel nicht als Partner, sondern als Kolonialherr gezeichnet. Es geht nicht mehr um Wertegemeinschaft oder Kohäsionspolitik – sondern um die Erzählung einer fremden Macht, die „unser Volk“ beugt und entrechtet.

Das klingt auf Rumänisch kaum anders als auf Ungarisch – und beide Fassungen klingen verdächtig vertraut für jeden, der sich mit russischen Staatsmedien beschäftigt.


Moldau: Die Lehre des Dodon

Das gleiche Framing wurde in Moldau zur Staatsdoktrin unter Präsident Igor Dodon. 2020 warnte er die Bevölkerung:

„Wir wollen kein EU-Protektorat sein.“Radio Free Europe/Radio Liberty

Dabei ist bemerkenswert, dass Dodon nicht einfach die EU ablehnte, sondern sie explizit als Kolonialmacht brandmarkte. Ganz im Sinne russischer Erzählungen, die jede europäische Annäherung als Bedrohung der „wahren Souveränität“ darstellen.


Georgien – das neueste Mitglied im Club der „Besorgten“

Und was ist mit Georgien?

2024 erklärte Premier Irakli Kobachidse allen Ernstes, die Kritik der EU an seinem sogenannten Agentengesetz sei nichts anderes als „Erpressung“ - Reuters, 03.05.2024

Das Gesetz, das ausgerechnet in Russland abgeschrieben wurde, soll westliche NGOs als „ausländische Agenten“ brandmarken. Wer hier an eine originell georgische Idee glaubt, glaubt vermutlich auch noch an die Unabhängigkeit der dortigen Justiz.

Aber wozu sich schämen? Wenn man bei Orbán, Dodon und Co. abschreiben darf, spart man schließlich am eigenen Propagandaetat.


Anti-LGBT-Rhetorik: Moralische Dekadenz als Feindbild

Der zweite Pfeiler der Moskauer Blaupause: Die EU als Förderer „unmoralischer Werte“.

Ungarn hat hier Vorarbeit geleistet wie kein anderes EU-Land. Legendär wurde die Anti-Soros-Kampagne 2017/2018 mit dem Slogan:

„Lassen wir nicht zu, dass er zuletzt lacht!“BBC News

Die Plakatkampagne bediente antisemitische Codes und schuf ein Bild des bösen, liberalen Strippenziehers, der Ungarn mit Migranten und Gender-Ideologie „überschwemmen“ wolle.

Das Muster setzte sich in Orbáns „Kinderschutzgesetz“ fort, das LGBT-Inhalte für Minderjährige praktisch verbot – und das er stolz als Bollwerk gegen „westliche Dekadenz“ präsentierte.


Rumänien zog rasch nach. Die Partei AUR, 2019 gegründet, machte Anti-LGBT-Agitation zu einem ihrer Markenzeichen. Balkan Insight beschreibt sie treffend als eine Mischung aus Nationalismus, Orthodoxie und Anti-Liberalismus - Balkan Insight, 08.12.2020

AURs offizielles Parteiprogramm prahlt offen damit, die „traditionelle Familie“ und die rumänische Kultur gegen den „Globalismus“ zu verteidigen.

Besonders bizarr ist die Behauptung, die EU zwinge Rumänien zur Aufgabe seiner Werte – während Brüssel seit Jahren das größte Infrastruktur- und Regionalförderprogramm finanziert, das Rumänien je gesehen hat.


Moldau und die Orthodoxe Kirche

Auch in Moldau ist die Anti-LGBT-Rhetorik Standardrepertoire.

Die Orthodoxe Kirche des Landes kämpft seit Jahren gegen Antidiskriminierungsgesetze und stilisiert Brüssel als Verderber orthodoxer Werte - Balkaninsight

Diese religiöse Instrumentalisierung ist ein bewährtes russisches Exportgut. Schließlich hat der Moskauer Patriarch Kirill selbst Homosexualität zur „Apokalypse der Menschheit“ erklärt und wirbt so für eine Allianz gegen den liberalen Westen.


Georgien: „Schutz der Tradition“ als Vorwand

Auch Georgien bleibt nicht zurück.

Die Regierungspartei Georgian Dream und ihre Unterstützermedien warnen regelmäßig davor, dass Brüssel „fremde Werte“ aufzwinge und die orthodoxe Tradition zerstören wolle.

EUvsDisinfo hat zahlreiche dieser Narrative dokumentiert. Ein typisches Beispiel:

„The death of Georgia's statehood … protecting LGBT rights first“EUvsDisinfo

Die Strategie ist immer dieselbe: Die EU wird nicht als Partner dargestellt, sondern als moralischer Eindringling, der die georgische Identität vernichten will.


Doppelte Standards – das Lieblingsargument aller Autokraten

Kommen wir zum dritten, nicht minder beliebten Narrativ: die Klage über die „doppelten Standards“ der EU.

Viktor Orbán nutzt das seit Jahren als rhetorisches Allzweckmesser. 2022 erklärte er – wieder mal empört –, Brüssel wolle Ungarn „bestrafen“, nur weil man keine Migranten reinlasse oder LGBTQ-„Propaganda“ ablehne - Euronews, 09.09.2022

In dieser Darstellung erscheint die EU als bigotter Zensor, der eine konservative Nation drangsaliert – wohlgemerkt dieselbe EU, die Orbán jährlich Milliarden überweist.


In Rumänien klang das 2018 kaum anders. PSD-Chef Dragnea empörte sich, Brüssel dränge Rumänien, Korruption zu bekämpfen, während es angeblich westliche Skandale ignoriere. Auch hier lautete der Spin: Die EU missbrauche ihre Macht selektiv, um Ostländer gefügig zu machen - Reuters, 28.06.2018

Diese Empörung über „doppelte Standards“ ist freilich nicht ganz ohne Grundlage – Korruption existiert auch in Westeuropa. Aber sie wird hier nicht angesprochen, um das Problem zu lösen, sondern um jeden Reformdruck abzuwehren.


In Moldau nutzte vor allem die Șor-Partei dieses Narrativ. Während Brüssel Reformen forderte, klagte Șor über unfaire Behandlung - IPN News Agency, 2021–2022, Beispielbericht

Man protestierte gegen Justizreformen – unter dem Banner der „doppelten Standards“ und „Einmischung in die Souveränität“. Wer genau hinsah, sah allerdings weniger eine patriotische Volksbewegung als eine gut finanzierte prorussische PR-Operation.


Georgien: Die Kunst des politischen Märtyrertums

Auch Georgiens Regierung liebt die Klage über „doppelte Standards“.

2025 verschlechterte sich Georgiens Freedom-House-Ranking erneut, vor allem wegen der Einschränkung der Pressefreiheit und der Justizunabhängigkeit - Freedom House 2025 – Georgia

Die Reaktion aus Tiflis? Nicht etwa Selbstkritik. Stattdessen hieß es, der Westen wolle Georgien politisch bestrafen, weil es „eigenständig“ sei.

Der Subtext ist klar: Wer den Westen kritisiert, ist patriotisch; wer Missstände benennt, ein Verräter.


Sanktionen gegen Russland: Wer schießt sich in die Lunge?

Ein besonders durchschaubares, aber wirkungsvolles Narrativ: Sanktionen gegen Russland seien „selbstschädigend“ und müssten fallen.

Orbán erklärte 2022 wörtlich:

„Die EU hat sich in die Lunge geschossen.“Reuters, 26.09.2022

Die Implikation: Nicht Russlands Panzer in der Ukraine sind das Problem, sondern Brüssels Sanktionen. Ein genialer Spin, wenn man zufällig russisches Gas zu Discountpreisen bezieht.


Moldau: Angst vor der „Ukrainisierung“

In Moldau läuft eine ähnliche Kampagne.

Pro-russische Parteien und Medien warnen regelmäßig davor, die EU wolle Moldau in den Krieg gegen Russland ziehen.

2022/23 organisierten PSRM und die Șor-Partei Demos mit Plakaten gegen eine angebliche „Ukrainisierung“ Moldaus - Balkan Insight, 28.02.2023

Das Kalkül: Ängste vor Krieg schüren, den Westen als Aggressor zeichnen und Russland als Friedensmacht darstellen.


Georgien: Die zweite Front

Noch schamloser agiert Georgian Dream.

2024 warnte Parteigründer Bidzina Iwanischwili vor einer westlichen „Global War Party“, die Georgien zur „zweiten Front“ gegen Russland machen wolle - RFE/RL

Man stellt sich also als neutrale Friedensmacht dar, die das Land vor einem großen Krieg rettet.

Dabei ist Georgien längst Opfer russischer Okkupation: 20 Prozent des Territoriums stehen seit 2008 unter russischer Kontrolle.

Ironischer könnte Propaganda kaum sein.

„Traditionelle Werte“ als letzter Rettungsanker

Ein weiteres Bindeglied zwischen diesen Staaten: die Berufung auf „Tradition“.

Das Schlagwort bedeutet in allen Fällen dasselbe: keine LGBT-Rechte, keine Gender-Politik, keine westliche Liberalisierung.

Ungarn? Hat das „Kinderschutzgesetz“ als Bollwerk verkauft.Rumänien? AUR wirbt offen mit der Verteidigung der „christlichen Familie“.Moldau? Die Orthodoxe Kirche mobilisiert gegen Antidiskriminierungsgesetze.Georgien? Warnungen vor der Zerstörung orthodoxer Werte gehören zum Pflichtprogramm in Regierungserklärungen.

Diese Linie ist nicht originell – sie ist eine russische Exportschlager. Patriarch Kirill selbst hat sie weltweit als kulturelle Gegenoffensive propagiert.


Wer zahlt, befiehlt: Moskaus Investitionen

Und die Ähnlichkeiten sind nicht nur in Worten sichtbar.

Ungarns Regierung erhielt 2023 frisches Kapital aus russischen Banken (z. B. VTB). Moldaus Șor-Partei ist eng mit Kreml-nahem Geld verbunden, Ilan Șor selbst floh nach Israel vor Strafverfolgung – und besuchte 2022 Moskau.

In Georgien laufen massive Investments über Briefkastenfirmen und Stiftungen, die sich nur schwer zurückverfolgen lassen.

Westliche Geheimdienste, etwa aus der Slowakei oder Tschechien, warnen regelmäßig vor russischer Parteienfinanzierung in Osteuropa - CEPA-Bericht „Mapping Kremlin Proxies in CEE“


PACE und der Europarat: Abstimmungen sprechen Bände

Das wohl eindeutigste Indiz für abgestimmte Loyalitäten sind Abstimmungen auf europäischer Bühne.

2025 stimmte der Europarat über ein Sondertribunal gegen Russland ab. Ergebnis: Ungarn stimmte offen dagegen, Georgien enthielt sich. - Netgazeti, 25.06.2025

Während der ukrainische Abgeordnete Goncharenko zu Recht entsetzt fragte, wie ein von Russland teilokkupiertes Land ein Tribunal gegen Moskau blockieren könne, schwieg die georgische Regierung.

„Sich enthalten ist auch eine Position.“

Orthodoxe Kirche als Propaganda-Multiplikator

Man kann diesen Spin nicht ohne die Rolle der Kirchen verstehen.

In Moldau wetterte die Metropolie jahrelang gegen Antidiskriminierungsgesetze. Sie stellte diese nicht etwa als Frage moderner Rechtsstaatlichkeit dar, sondern als „Kampf gegen Gott“ und den „Erhalt der orthodoxen Identität“.

Die Orthodoxie wird damit zur geopolitischen Waffe.

Das Moskauer Patriarchat spielt in dieser Strategie eine entscheidende Rolle. Patriarch Kirill selbst hat Homosexualität als „Sünde, die den Untergang der Zivilisation herbeiführt“ gebrandmarkt.

In Georgien ist die orthodoxe Kirche traditionell eng mit Russland verflochten. Der Patriarch Ilia II. spricht oft neutral bis wohlwollend über die russische Kirche – trotz des Umstands, dass Russland 20% des Landes besetzt hält.

Das ermöglicht eine besonders perfide Argumentationslinie: Die EU wird als moralische Bedrohung gebrandmarkt, während Russland trotz seiner Truppenpräsenz als Verteidiger christlicher Werte inszeniert wird.


Gleiches Skript, andere Bühne

Man könnte nun sagen: „Aber das sind doch alles unterschiedliche Länder! Unterschiedliche Kontexte!“

Stimmt. Aber hören wir mal genau hin:

  • „Brüssel ist ein Imperium.“ – Orbán 2023

  • „Wir wollen kein EU-Protektorat.“ – Dodon 2020

  • „Die EU will Rumänien beugen.“ – Dragnea 2018

  • „EU-Kritik ist Erpressung.“ – Kobachidse 2024

Das sind keine zufälligen Parallelen. Das ist semantisch gleichgeschaltete Propaganda.

Gleiches gilt für den moralischen Teil:

  • „Kinderschutz gegen LGBT-Propaganda“ – Ungarn

  • „Traditionelle Familie gegen Globalismus“ – Rumänien (AUR)

  • „Schutz orthodoxer Werte“ – Moldau

  • „Bewahrung der orthodoxen Tradition“ – Georgien

Das Ziel ist immer identisch: Angst vor Identitätsverlust schüren und dabei jede Kritik am eigenen Machtapparat als westliche Verschwörung diskreditieren.


Medien als Waffe Parallel läuft die mediale Unterstützung:

In Moldau verbreiten prorussische Fernsehsender und YouTube-Kanäle nahezu wortgleich die Narrative aus Moskau.

Ungarn steht hier in nichts nach: Während unabhängige Medien gegängelt werden, verbreiten regierungsnahe Outlets treu die Linie von Fidesz – inklusive Russland-naher Positionen zu Sanktionen und Ukraine-Krieg.

Georgien schließlich erlebt eine Welle regierungsnaher Fernsehsender, die mit dramatischer Musik und alarmistischer Grafik jeden NGO-Aktivisten zum Feindagenten erklären. Die Mechanik ist überall identisch.

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