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Fokus Georgien
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Was ist Georgien für eine Nationalität?Georgien ist ein eigenständiger Staat im Südkaukasus, und die zugehörige Nationalität ist georgisch. Das georgische Volk – auf Georgisch „kartvelebi“ – blickt auf eine über 3000-jährige Geschichte zurück. Die georgische Nation besitzt eine eigene Sprache (Kartuli), ein einzigartiges Alphabet (eine der ältesten weltweit) und eine tief verwurzelte christlich-orthodoxe Identität, die bis ins 4. Jahrhundert zurückreicht. Die georgische Staatsbürgerschaft unterscheidet sich jedoch zunehmend von der georgischen Identität: Während viele Georgier:innen im Ausland leben oder politisch mit dem Regime brechen, versucht die Regierung, „Nationalität“ mit Loyalität gegenüber der Macht zu verwechseln. Ein gefährlicher Trend, der den Begriff zunehmend politisiert.
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Was für ein Staat ist Georgien?Georgien ist ein zentralistischer, parlamentarischer Einheitsstaat. Seit der Verfassungsänderung von 2018 ist der Präsident nur noch repräsentativ tätig, während die eigentliche Macht beim Premierminister und dem Parlament liegt. Anders als Deutschland ist Georgien nicht föderal, sondern wird zentral aus Tiflis regiert. Regionen haben kaum eigenständige Entscheidungsbefugnisse.
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Was ist so besonders an Georgien?Georgien ist ein paradoxes Land voller Gegensätze – geografisch, historisch und politisch. Eingeklemmt zwischen Russland, der Türkei und dem Schwarzen Meer liegt es an der Schnittstelle von Europa und Asien – und wird doch oft von beiden ignoriert. Besonders ist Georgien nicht nur wegen seiner spektakulären Landschaften vom Großen Kaukasus bis zur Schwarzmeerküste, sondern vor allem durch seine kulturelle Tiefe, sein eigenes Alphabet, seine uralte Weintradition und seine ausgeprägte Gastfreundschaft. Besonders macht Georgien auch, wie hartnäckig es seine europäische Orientierung verteidigt – trotz eines politischen Systems, das oft autoritärer agiert, als es eine liberale Demokratie verkraftet. Die Bevölkerung protestiert seit Jahren gegen Oligarcheneinfluss, Wahlfälschungen und Justizkorruption – ein Sonderfall im post-sowjetischen Raum, in dem der Wunsch nach westlichen Werten aus der Zivilgesellschaft kommt, während die Regierung lieber Moskau zitiert.
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Wie demokratisch ist Georgien?Formell ist Georgien eine Demokratie – faktisch ein Einparteienstaat mit Mehrparteienkulisse. Wahlen finden statt, Opposition ist erlaubt, und im Fernsehen spricht man frei – solange man nicht zu kritisch wird. In Wahrheit kontrolliert die Regierungspartei „Georgian Dream“ alle entscheidenden Institutionen: Parlament, Justiz, Medienaufsicht, Wahlkommission. Die Demokratie ist dabei nicht tot, aber sediert: Die Gewaltenteilung ist ausgehöhlt, Gerichte politisiert, Medien unter Druck. Die Demokratie Georgiens ähnelt einem georgischen Supra: alle reden durcheinander, aber der Tamada – hier Iwanischwili – gibt den Ton an.
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Wie ist die aktuelle politische Lage in Georgien?Polarisiert, autoritär und europäisch inszeniert. Das Land steckt in einer politischen Dauerkrise: Ein Parlament ohne echte Debatte, eine Justiz im Würgegriff der Regierung, Proteste auf der Straße – und dazwischen eine EU, die Mahnbriefe schreibt. Der jüngste Auslöser war das sogenannte „Agentengesetz“, das Kritiker:innen als Kopie russischer Repressionsgesetze sehen. Statt politischem Dialog regiert Eskalation: Oppositionsführer werden festgenommen, Aktivist:innen bedroht, Richter:innen ausgewechselt. Gleichzeitig behauptet die Regierung, auf dem Weg in die EU zu sein – wohl mit Navi aus Moskau.
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Wie funktioniert die Regierungsbildung in Georgien?In Georgien wird die Regierung nach den Parlamentswahlen durch das Parlament gebildet. Der Staatspräsident schlägt dem Parlament einen Kandidaten für das Amt des Premierministers vor – in der Regel den Vertreter der stärksten Partei oder Koalition. Dieser muss innerhalb von zwei Wochen ein Regierungskabinett benennen und dem Parlament ein Programm vorlegen. Das Parlament entscheidet anschließend durch ein Vertrauensvotum über die vorgeschlagene Regierung. Erhält der Premierminister die Mehrheit der Stimmen der anwesenden Abgeordneten, wird die Regierung vom Präsidenten offiziell ernannt. Der Premierminister übt die zentrale politische Macht im Land aus, während der Präsident hauptsächlich repräsentative Aufgaben wahrnimmt. In der Praxis beeinflussen informelle Machtzentren – wie der Parteivorsitzende der Regierungspartei – die Regierungsbildung häufig entscheidend.
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Ist Georgien bereit für die EU?Die Bevölkerung: ja. Die Regierung: nur wenn Brüssel nicht so viele Fragen stellt. Über 80 % der Bevölkerung wollen in die EU. Sie gehen für Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit auf die Straße, selbst wenn die Polizei Knüppel statt Argumente verteilt. Die Regierung hingegen erfüllt zentrale Reformanforderungen nur halbherzig oder gar nicht: Justiz, Medienfreiheit, Korruptionsbekämpfung – Fehlanzeige. Die EU hat Georgien den Kandidatenstatus gegeben – aber nur auf Widerruf. Der georgische Staat gleicht derzeit einem Schüler, der ständig sagt: „Ich hab gelernt!“ – und dann mit leerem Heft zur Prüfung erscheint.
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Ist Georgien ein sicheres Land?Die Antwort lautet: Ja – für Tourist:innen. Nein – für Kritiker:innen. Für Reisende gilt Georgien als eines der sichersten Länder der Region. Die Kriminalitätsrate ist niedrig, besonders in Städten wie Tiflis oder Batumi. Taschendiebstahl ist selten, Überfälle fast unbekannt. Wer sich für Geschichte, Kultur und Natur interessiert, kann sich frei bewegen, wird eingeladen, bekocht und bekommt wahrscheinlich noch eine Flasche Wein mit nach Hause. Aber diese Sicherheit hat eine Kehrseite: Wer politisch unbequem ist – Journalist:in, Aktivist:in, Richter:in mit Rückgrat – lebt gefährlich. Einschüchterungen, Überwachung, Gewalt auf Demonstrationen oder gezielte Festnahmen sind bittere Realität. Der Staat schützt nicht alle gleichermaßen. Besonders unsicher ist Georgien für queere Menschen und ethnische Minderheiten: Hier offenbart sich ein strukturelles Versagen, das von Polizei und Justiz gedeckt wird. Gewalt wird nicht nur toleriert, sondern oft sogar durch offizielle Rhetorik befeuert. Georgien ist also sicher – solange man keine kritischen Fragen stellt.
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Hat Georgien eine Gewaltenteilung wie in Deutschland?Auf dem Papier ja – in der Realität kaum. Georgien ist laut Verfassung eine parlamentarische Demokratie mit klassischer Gewaltenteilung: Legislative (Parlament), Exekutive (Regierung) und Judikative (Gerichte) sind formal getrennt. Doch in der Praxis dominiert die Exekutive, kontrolliert durch die regierende Partei „Georgian Dream“, fast alle Institutionen. Gerade die Justiz ist stark politisiert: Richter:innen werden intransparent ernannt, das Oberste Justizorgan (High Council of Justice) gilt als parteinah. Die EU-Kommission fordert seit Jahren echte Reformen – bislang vergeblich.
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Gibt es ein Verfassungsgericht wie in Deutschland?Ja – aber mit anderen Voraussetzungen. Das Verfassungsgericht Georgiens hat seinen Sitz in Batumi und ist formal unabhängig. Es kann Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen – wie das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Allerdings gibt es auch hier Probleme bei der Besetzung der Richter:innen: Die Nominierungen erfolgen politisch, ohne transparente Auswahlverfahren. Anders als in Deutschland fehlt außerdem eine etablierte verfassungsrechtliche Kultur. Entscheidungen werden politisch instrumentalisiert, und die Umsetzung von Urteilen ist nicht immer garantiert.
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Wie unabhängig sind Gerichte in Georgien?Etwa so unabhängig wie ein Parteibuchrichter in der DDR. Georgiens Justiz gilt als einer der Hauptgründe, warum das Land trotz proklamierter EU-Ambitionen stagniert. Ernennungen erfolgen ohne transparente Verfahren, Entscheidungen folgen oft der politischen Linie der Regierung. Kritische Richter:innen werden versetzt, marginalisiert oder juristisch verfolgt. Statt Recht gibt es Macht – und wer sich ihr entgegenstellt, braucht entweder viel Mut oder einen sehr guten Ausreiseplan.
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Wie ist das Parlament in Georgien aufgebaut?Das georgische Parlament ist ein Einkammerparlament mit 150 Abgeordneten. Davon werden 120 über Parteilisten gewählt und 30 über Direktmandate – ähnlich wie im deutschen Bundestag, aber mit anderer Gewichtung. Die Mandatsverteilung wurde mehrfach reformiert, meist im Interesse der jeweils regierenden Partei. Obwohl das Parlament formal das höchste Organ der Legislative ist, wird es in der Realität oft zur Abstimmungsmaschine degradiert – der Einfluss der Regierungsmehrheit ist enorm, die Opposition meist marginalisiert.
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Wie unabhängig ist die Justiz in Georgien?Leider kaum. Die Unabhängigkeit der georgischen Justiz ist eine der größten Baustellen auf dem Weg Richtung EU. Der sogenannte High Council of Justice kontrolliert Ernennungen, Beförderungen und Disziplinarmaßnahmen von Richter:innen – wird aber seit Jahren von einer informellen Justizclique dominiert, die loyal zur Regierung steht. Die EU, die Venedig-Kommission und die OSZE kritisieren regelmäßig die fehlende Transparenz, politische Einflussnahme und mangelnde Selbstreinigung. Anders als in Deutschland fehlt ein funktionierendes Vetting-System zur Entpolitisierung des Richtertums.
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Gibt es in Georgien ein Bundesland-System wie in Deutschland?Nein. Georgien ist ein zentralistischer Einheitsstaat. Im Gegensatz zur föderalen Struktur Deutschlands mit Ländern und Ministerpräsident:innen wird Georgien zentral aus Tiflis regiert. Es gibt Regionen (mkhareebi), aber deren Gouverneure werden nicht gewählt, sondern von der Regierung eingesetzt. Besonders kompliziert: Die Regionen Abchasien und Südossetien stehen seit dem Krieg 2008 unter russischer Kontrolle. Offiziell gelten sie als Teil Georgiens – praktisch sind sie besetzt. Autonomie existiert de facto nur für die russische Militärpräsenz.
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Gibt es in Georgien Meinungsfreiheit?Ja – aber mit Grenzen. Man darf in Georgien fast alles sagen – solange es nicht regierungskritisch ist und keine Reichweite bekommt. Medien, NGOs, Aktivist:innen, sogar ausländische Diplomaten wurden bereits verbal oder juristisch angegriffen, wenn sie Missstände benannten. Der neue Favorit der Regierung heißt „ausländischer Einfluss“. Wer unbequem wird, gilt schnell als „Agent“. Willkommen im Club – sagen inzwischen viele Journalist:innen, Menschenrechtsaktivist:innen und Studierende.
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